Hesmats Flucht
hätte den Willen dazu nicht mehr aufgebracht.
»Ich warte«, sagte er, »komm mit, ich muss dir was zeigen.« Langsam zog er den Gürtel aus der Hose. Er blickte Fahid in die Augen. »Du bist mein bester Freund«, sagte er, »mein einziger, mein Bruder.«
Fahid hatte keine Fragen gestellt, woher er das viele Geld hatte. Trotzdem erzählte ihm Hesmat, wie ihm sein Onkel geholfen hatte, das Haus seines Vaters zu verkaufen, um Geld für die Flucht zu bekommen.
Zuerst hatte sein Onkel nicht gewusst, wie er reagieren sollte, als ihm Hesmat seinen Fluchtplan vorlegte. Der Plan war verrückt. Ein Elfjähriger, der sich alleine bis nach Moskau durchschlagen wollte, war ein Selbstmörder. Sein Onkel hörte ihm genau zu, während Hesmats kleine Hand die von Tuffon gezeichnete Landkarte mit dem Fluchtplan vor ihm ausbreitete.
»Ich werde es schaffen«, hatte Hesmat gesagt, »alles, was ich noch brauche, ist Geld.«
Eine Woche später hatte sein Onkel das nötige Geld. Siebzig glatt gebügelte und fast neue Hundertdollarscheine, in schmieriges braunes Papier gewickelt, das sein Onkel plötzlich aus der Tasche zog. Er legte die Scheine auf den Tisch und ging einen Schritt zurück. »7000 Dollar«, hatte sein Onkel gesagt.
Noch nie hatte Hesmat oder sein Onkel so viel Geld gesehen. In einem Land, in dem Menschen wegen lächerlicher Schulden in der Höhe von zwei, drei Dollar bedroht und umgebracht wurden, waren 7000 Dollar mehr als tausend Gründe, vorsichtig zu sein.
»Das reicht bis London«, hatte sein Onkel gesagt. »Dort bist du sicher. Wenn sie dich dort erwischen, werden sie dich nicht zurückschicken.«
Hesmat war so mit der Planung seiner Flucht beschäftigt gewesen, dass er sich nie den Kopf über das Ziel zerbrochen hatte. Niemand glaubte daran, dass er überhaupt lebend aus dem
Land kommen würde, wie konnte er da an London denken? Weiter als bis Moskau hatten seine Pläne nie gereicht. Moskau musste doch genügen? Sein Vater hatte immer nur gut über die russische Hauptstadt gesprochen. »Dort kann man gut leben«, hatte er gesagt.
Als Tuffon von seinen Freunden in Moskau gesprochen hatte, war die Sache für Hesmat klar gewesen. Er würde nach Moskau gehen und dort bleiben. Aber London?
»Du kannst nicht in Moskau bleiben«, hatte sein Onkel gesagt. »Wir sind dort nicht mehr erwünscht. Als dein Vater noch lebte, hat die Welt anders ausgesehen. Inzwischen verachten uns die Russen, genauso wie die Pakistani es tun. Du musst weiter in den Westen. England ist das beste Ziel. Ich werde meine Freunde dort anrufen, sobald du unterwegs bist. Wenn du es wirklich schaffst, werden sie dir sicher helfen.«
»Und wie soll ich da hinkommen?«, hatte er schließlich gefragt.
»Für das Geld kriegst du in Moskau die nötigen Papiere, mit denen du problemlos weiterkommst. Du wirst sogar noch genug Geld für ein Flugticket haben, und dann bist du von Moskau aus schneller in England, als du glaubst.«
»Aber ich habe keinen Pass, keine Papiere, nichts«, hatte Hesmat gesagt.
»In Moskau bekommst du alles«, hatte sein Onkel geduldig wiederholt. »Du musst mir vertrauen. Wenn du es wirklich lebend bis nach Moskau schaffst, bist du auch schon so gut wie in London.«
Er hatte nicht gewusst, wie viel Geld er genau in den Händen hielt, doch hatte ihn sein Onkel davor gewarnt, es jemandem zu zeigen. Es schien ihm beinahe lächerlich, dass ihn siebzig einzelne Scheine zu einem reichen Mann machen sollten. Es war ein kleiner Stapel Dollarscheine, der mehr wert war als all
diese wertlosen afghanischen Geldbündel. Er hatte das Geld genommen und damit gemacht, was ihm sein Vater gezeigt hatte. Er hatte den Gürtel seiner Hose mit der Messerspitze aufgetrennt und die Scheine klein gefaltet in den Zwischenraum gestopft. Geschickt hatte er die Naht wieder geschlossen und sich vergewissert, dass man nichts sah. Es war eine saubere Arbeit. Keine Naht, keine Beule, nichts deutete darauf hin, dass er praktisch ein ganzes Haus im Gürtel trug. Die restlichen Scheine, die er nicht im Gürtel untergebracht hatte, versteckte er in seiner Unterhose. Er hatte sich gerade seinen Pullover über den Gürtel gezogen, als er seinen Großvater kommen hörte. Der Alte wusste längst Bescheid, was passiert war.
Als sein Großvater erfahren hatte, dass Hesmats Onkel das Haus für den Jungen verkauft hatte, hatte er die ganze Familie um sich versammelt und bot Hesmat an, sich doch im Haus zu verstecken.
»Es wird schon nicht so schlimm werden«,
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