Hesmats Flucht
offenen Münder gespritzt, aber der Himmel war erbarmungslos geblieben. Ein Kind, das auf die Wasserflasche warten musste, lutschte am feuchten Gras, ein Mann, der sich satt trank, begann mit einer Frau zu streiten, die Wasser für ihre Tochter verlangte. Er stieß sie wortlos zur Seite und trank, bis ihm das Wasser über die Wangen und die verdreckten Haare lief.
»Kaut langsam«, sagten die Männer, »es wird das letzte Essen für eine lange Zeit sein; es dauert noch, bis wir das nächste Versteck erreichen.«
Karim lag neben Hesmat am Straßenrand und dehnte seine Rückenmuskeln. Das weiche Gras, das Wasser, die Ruhe in ihren dröhnenden Ohren machten sie müde. Hesmat überlegte gerade, wie er es sich am bequemsten machen konnte, als die Schlepper zu schreien begannen: »Los, weiter!«
Die Männer trieben die Gruppe erbarmungslos durch die letzten Bäume hinaus auf die Ebene. Irgendwo in dieser Richtung lag die Grenze zu Ungarn, aber bis dorthin waren es noch mehr als 200 Kilometer. 200 lange Kilometer, bis die Männer die Flüchtlinge endlich weiterreichen konnten. Die Gruppe war zäh. Zäher, als sie geglaubt hatten. Die Schlepper hatten sie lange warten lassen und trotzdem hatte die Gruppe zusammengehalten. Sie hatten sich in den Lkw gelegt, ohne groß zu protestieren, und auch jetzt folgten die Flüchtlinge wortlos ihren Befehlen. Es waren ein paar Kinder darunter. Sie weinten und jammerten, aber je mehr sie sie antrieben, desto stärker schien ihr Wille. Die Männer nahmen die Kleinsten und trugen sie auf den Schultern.
Immer wieder mussten sie jedoch ein Stück ihres Gepäcks zurücklassen.
Einer der Schlepper fluchte. Er hatte schon öfter das Gepäck verkauft und sich so ein paar Dollar dazuverdient. Hier würden sie die Sachen bei ihrer Rückkehr jedoch nicht wiederfinden. Die Sachen, die die Leute für den zweiten Lastwagen zurückgelassen hatten, waren sicher schon verkauft. Er musste sich hier abstrampeln, während die anderen die Taschen und Koffer plünderten und sich die besten Sachen unter den Nagel rissen. So etwas wie Ehre gab es nicht unter Schleppern, jeder stahl und wurde bestohlen, und wer nicht höllisch aufpasste, wurde über den Tisch gezogen.
Eine Trumpfkarte hatten sie allerdings noch. Die Flüchtlinge mussten noch über die Grenze und spätestens dort würden sie die letzten großen Taschen zurücklassen. Erfahrungsgemäß nahmen sie das Geld und die Sachen mit, die sie am dringendsten benötigten. Nicht selten blieben Schuhe und Kleidung zurück. Dinge, die sich gut verkaufen ließen. Einmal hatte er eine alte Wanduhr in einer Tasche gefunden. Gute russische
Handarbeit. Sie war zu schwer, um damit über die Grenzzäune zu steigen.
Was wollten die mit der Wanduhr?, hatte er sich gefragt. Wer schleppte eine Wanduhr um die halbe Welt mit in den Westen? Er hatte 15 Dollar dafür bekommen.
Einige der Taschen, die sie noch immer mitschleppten, sahen vielversprechend aus. Er würde zu seinem Geld kommen.
Seit fast zwei Tagen hatten sie bis auf ein kleines Stück Brot nichts mehr zu essen bekommen, und das wenige Obst, das sie unterwegs gefunden hatten, hielt nicht lange vor. Jedes Mal wenn es eine kurze Pause gab, war Hesmat auf die Erde gesunken und hatte geglaubt, nie mehr aufstehen zu können.
Die Kinder schrien, doch die Mütter waren zu verzweifelt, um ihren Kindern noch Trost spenden zu können. Sie zogen und schleiften die Kleinsten stundenlang hinter sich her. Aber nach ein paar Stunden half selbst das Ziehen und Schleifen nichts mehr. Den Kindern versagten die Beine und sie knickten bei jedem zweiten Schritt ein. Das Weinen wurde lauter, anklagender und ging in ein bitteres Wimmern über. Die Mütter hatten keine Tricks mehr auf Lager, mit denen sie die Kleinen überreden konnten weiterzugehen. Es war den Kindern mittlerweile egal, was sie hinter dem nächsten Hügel, dem nächsten Baum, nach der nächsten Stunde sehen würden. Jedes Mal waren sie enttäuscht worden, hatten sich ihre Mütter als Lügnerinnen entlarvt. Ihre Versprechungen waren so trostlos wie die Ebene, die sie seit Stunden durchschritten.
Am Horizont entdeckte Hesmat die Staubwolken von Autos. Auch die Kinder sahen sie.
»Warum müssen wir laufen?«, fragten die Kinder. »Mami, es stimmt ja gar nicht, dass es hier keine Straßen gibt! Warum hast du das gesagt? Mami, schau doch, da fahren sie! Warum
müssen wir laufen? Ich will nicht mehr laufen, ich will auch in einem Auto sitzen.«
Bald fehlte den
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