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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Kindern jedoch die Kraft für solche Fragen. Die Gruppe wurde immer stiller. Nur ab und zu war ein leises Stöhnen oder Wimmern zu hören.
    Die Gruppe hatte sich mit den Stunden immer weiter auseinandergezogen. Die Männer schritten voran, vor allem die starken Männer, Männer wie Hesmat und sein Onkel und die Schlepper. Gefolgt von Männern, die ihre Kinder tragen mussten, und Frauen, die noch halbwegs bei Kräften waren. Die Schlusslichter bildeten die Alten und die Kinder, die niemand mehr tragen konnte. Zwei Schlepper bildeten die Nachhut und trieben sie an, fluchten, stießen sie vorwärts, traten ihnen in die Hinterteile.
    Dann blieb der Tross plötzlich stehen.
    »Was ist?«, fragte Hesmat und blickte sich um.
    »Sie können nicht mehr«, erklärte sein Onkel. »Da schau, ganz hinten. Da sitzen zwei.«
    Der Wind trug das Fluchen der Schlepper vom Ende der Gruppe bis zum Anführer, der ein Echo des Fluches ausstieß. Sie schubsten die zwei sitzenden Alten, schrien sie an, ließen sie schließlich allein im Staub zurück.
    Zwei andere Flüchtlinge liefen zu ihnen, redeten auf die Fremden ein, zerrten sie an den Oberarmen hoch und stützten sie. Es ging weiter.
    Beim zweiten Mal, eine knappe Stunde später, hatten die Schlepper mehr Nachsicht. »Pause«, schrien sie, »wir bleiben hier für die Nacht.«
    Hesmats tauber Körper sank auf Gras, das spärlich unter den Bäumen wuchs, und er blieb liegen, wie er hingefallen war. Er roch die Erde, den trockenen Geschmack des Staubes. Er roch das fremde Land, einen süßlichen Duft, der ihn verwirrte.
Langsam sah er sich um und streckte die Hand aus. Ein Apfel! Mitten im Nirgendwo, hier unter diesem Baum, lag ein riesiger, saftiger Apfel. Er schlug die Zähne in das süße Fleisch und schluckte die Bissen kaum gekaut hinunter. Der Saft, der ihm links und rechts über die Backen floss, schmeckte nach Leben.
    Er musste nicht rufen, die anderen hatten sein Schmatzen gehört, den Apfel gesehen, liefen, stolperten, schlugen sich um die Äpfel, die sie beinahe übersehen hätten. Sie waren hungrig wie die Wölfe, die hier in den Wäldern lebten. Sie sahen die Äpfel, die noch auf dem Baum hingen, und mobilisierten ihre letzten Kräfte, um auf den Baum zu klettern. Die Kinder stürzten sich auf die Äpfel, die zu Boden fielen, die Frauen sammelten sie in ihren Schürzen. Die Schlepper griffen in ihre Rucksäcke und tranken Wodka, während sie den Wilden beim Apfelmahl zusahen.
    Sie aßen, bis kein Apfel mehr am Baum hing. Die, die sie nicht mehr essen konnten, steckten sie in ihre Taschen. Niemand wusste, wann sie endlich das versprochene Versteck mit dem versprochenen Proviant erreichen würden. Es konnte noch Stunden, einige sagten sogar Tage, dauern. Niemand fragte die Schlepper, sie logen seit Stunden, sie hatten gelogen, seit sie das Zimmer verlassen hatten und in den Lkw gestiegen waren. Sie waren ihnen ausgeliefert, und wer Angst hatte, stellte keine Fragen.
    »Wir sind dümmer als die Tiere«, sagte eine Frau leise. »Wir bezahlen für unsere Schlächter.«
    »Sie tun das, wofür sie von uns bezahlt werden«, entgegnete eine Männerstimme. »Du bist anscheinend zu lange von zu Hause weg, um dich zu erinnern, was Schlächter wirklich tun. Die Männer bringen uns in den Westen! Sei zufrieden, Weib.«
    »Wir bleiben hier und warten«, sagte einer der Schlepper,
der sich zu ihnen gesetzt hatte, »in ein paar Stunden kommen die Wagen, um uns zu holen. Legt euch hin und schlaft.«
    »Uns ist kalt«, sagte eine Frau.
    »Dann macht euch Feuer«, schimpfte der Mann, »oder soll ich euch auch noch Holz dafür bringen?« Er stand auf und ging zurück zu den anderen Schleppern.
    Die Nacht, die über der Talsenke hereinbrach, gab einen Ausblick auf den Herbst. Hesmat überlegte, er zählte die Wochen zu Monaten zusammen, die er unterwegs war. Acht Monate waren vergangen, seit er diesen kalten Wind das letzte Mal gespürt hatte. Damals war es der Wind der letzten Wintertage, der ihn am Hindukusch frieren ließ, jetzt kündigte der Wind den nächsten Herbst und Winter an.
    Sein Onkel raffte sich auf, um Holz für ein Feuer zu sammeln, die anderen Männer folgten ihm wortlos in die Dunkelheit.
    Sein Onkel steckte sich eine Handvoll Grasbüschel in den Mund und kaute unwillig darauf herum. »Wenn ich nicht bald was zu essen bekomme, werde ich mir den Typen vorknöpfen«, sagte er und zeigte auf einen der Männer, der das Entladen des Autos bewachte. »Sie schlagen sich auf unsere

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