Hesmats Flucht
den Moment, in dem der Magen sich füllte, waren sie restlos glücklich.
Während Hesmat am Fenster stand und hinausschaute, schliefen die meisten anderen bereits. Irgendetwas störte ihn, irgendetwas schien nicht zu stimmen. Der ungewohnte Luxus und das fehlende Schimpfen und Schreien der Schlepper machten ihn nervös. Es war, als wäre ein Schmerz von einem Augenblick auf den anderen verschwunden, und niemand wusste, aus welchem Grund.
»Hör auf zu grübeln und ruh dich aus«, riet sein Onkel ihm, »noch sind wir nicht am Ziel.«
Die Schlepper waren nach dem Essen mit einem dunklen
Auto weggefahren und hatten sie allein gelassen. Nur einer war geblieben, um aufzupassen, wie er sagte.
»Wo sind sie hin?«, fragte Hesmat.
Er ging zurück in die Küche, die so sauber geputzt war, dass selbst der Boden glänzte. In den Schubladen fand er Besteck, das sie nicht benutzt hatten, als sie das Essen mit bloßen Händen verschlungen hatten, und im Küchenschrank roch er an Gewürzen, die ihm fremd waren. Auf dem Tisch sah er die Dosen, die ihnen die Schlepper in die Hand gedrückt hatten und die jetzt offen und leer vor ihm standen.
»Was ist das für eine Schrift?«, hatten die Kinder gefragt, als sie die Dosen erwartungsvoll ansahen.
»Das ist Ungarisch, mein Kleiner«, hatte der Vater ihnen erklärt.
»Das sind lateinische Buchstaben«, hatte Hesmats Onkel ergänzt, »nicht mehr kyrillische. Wir sind jetzt in Europa, nicht mehr in Russland.« Er hatte sich das Essen in den Mund gestopft und gelacht wie alle, die am Boden zwischen den Küchenstühlen saßen und sich zum ersten Mal seit Tagen satt aßen.
Am Nachmittag waren die Schlepper mit vier weiteren Flüchtlingen zurückgekehrt und in ihrem Zimmer war es enger geworden. Die neuen Flüchtlinge sprachen eine Sprache, die sie noch nie gehört hatten, und hatten eine tiefschwarze Haut. Sie waren größer und kräftiger als alle Männer, die Hesmat bisher gesehen hatte, und trotzdem hatten sie Angst.
Sein Onkel war der Einzige, der sich mit ihnen unterhalten konnte. Sein Englisch war nicht so gut, wie Hesmat geglaubt hatte, trotzdem sprach er lange mit ihnen. Die Männer erzählten viel mit den Händen. Sie stammten aus dem Kongo und waren seit mehr als einem Jahr auf dem Weg nach Europa. Sie
konnten nicht erklären, wie sie nach Ungarn gekommen waren. Sie waren so weit von ihrer geplanten Route abgekommen, dass niemand ihrer Geschichte folgen konnte. Viele waren gestorben, übersetzte sein Onkel und berichtete von den Gräueltaten, von Mord, Tod, Schlägen und Hoffnungslosigkeit, die die Männer erleben mussten.
»Ihr habt es bald überstanden«, sagte einer der Kirgisen, »wir sind bald da.«
»Glaubt ihnen nicht«, übersetzte Hesmats Onkel die Worte des Anführers der Kongolesen, »wir hören seit Monaten, dass wir bald da wären. Jedes Mal wenn sie sagten, wir wären bald da, ist einer gestorben, und die Reise ist immer noch weitergegangen.«
Schweigend und erschrocken starrten sie sich an.
Nach zwei Tagen, an denen nichts passiert war, wurden sie unruhig.
»Es fehlt noch eine Gruppe«, sagten die Schlepper.
Nach vier Tagen voller Dosen mit lateinischer Schrift, voller Blicke hinaus in die Zukunft stand der Anführer der Schlepper plötzlich mit einem Telefon vor ihnen.
»Wer mitkommen will, ruft jetzt an«, sagte er. Er wurde ungeduldig, als sie sich einen Augenblick berieten. »Was wollt ihr?«, schrie er. »Wer nicht anruft, bleibt hier. Die Grenze ist nur ein paar Kilometer von hier. Euch ist doch klar, dass wir euch nicht laufen lassen, ohne dass ihr bezahlt habt?«
Wieder beriet sich die Gruppe, bis schließlich einer das Telefon in die Hand nahm und einen sorgsam gefalteten Zettel aus der Tasche zog. Seine Finger zitterten, als er die Nummer wählte, seine Stimme stockte. Sie reichten das Telefon der Reihe nach weiter und immer mehr Finger zerrten Zettel aus ihren Taschen.
Wer angerufen hatte, machte sich für das letzte Stück des Weges bereit.
Hesmat gehörte zu denen, die niemanden erreichten. Sayyid war nicht zu Hause, und am Mobiltelefon meldete sich eine fremde Frau, die nicht mit Hesmat sprechen wollte. Sie erklärte ihm nur, dass er Sayyid eine Nachricht hinterlassen könnte. Er legte auf.
»Und?«, fragte der Schlepper.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn nicht erreicht.«
Der Schlepper packte ihn am Arm und ging mit ihm einen Stock höher in einen kleinen Raum, der ganz mit Plastikfolie ausgelegt war. Es stank
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