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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Mutter hinter ihnen hertaumelte. Über den Hügeln ging die Sonne unter und es wurde kalt.
    Die Scheinwerfer schlichen sich über die Geländekuppe in das Hochtal. Lange bevor sie die leuchtenden Augen der Wagen entdeckten, hatte sie das Geräusch der fernen Motoren geweckt.
    Hesmat war erst aufgeschreckt, als ihn sein Onkel an der Schulter berührte. »Wach auf, irgendetwas passiert.«
    Das Feuer war ausgegangen und die Feuchtigkeit der Nacht hatte sich in seine Kleider geschlichen. Das Gras war nass, und er zitterte vor Kälte, als die beiden Kastenwagen zwischen den Flüchtlingen stoppten. Neue Gesichter, die im Halbdunkel und im zitternden Kegel einer Taschenlampe noch grimmiger aussahen als jene, die Hesmat bereits kannte, stiegen aus und unterhielten sich mit den Schleppern in einer Sprache, die er nicht verstand.
    »Ich gehe nicht ohne meine Kinder weiter«, sagte eine Frau und drückte als Beweis die Hände ihrer Kleinen derart fest, dass das Blut aus deren Fingerkuppen wich.
    »Dann nimm sie und steig mal auf«, sagten die Schlepper.
    Die übrigen entkräfteten Flüchtlinge folgten wortlos. Als die Tür des Kastenwagens zugeworfen wurde, saßen sie wieder einmal im Dunkeln. Ihre Fahrt ins Ungewisse ging weiter.
Einen halben Tag später öffneten die Schlepper die Heckklappen, und die Flüchtlinge blickten verloren in den Regen, der die karge Landschaft mit seinem Schleier überzog.
    Die Geröll- und Schotterpisten waren in der Dunkelheit des Lasters wie eine Achterbahnfahrt gewesen. Die Schläge gegen die Räder und die Rücken der Menschen im Lieferwagen kamen ohne Vorwarnung. Manchmal riss ein Schlag die am Boden zusammengekauerten Menschen um und warf sie in der Dunkelheit durcheinander. Schreiende Kinder, weinende Frauen und schimpfende Männer tasteten sich dann zurück auf einen freien Platz, auf dem sie sich aneinanderlehnten, um auf die nächste Bodenwelle, den nächsten stechenden Schmerz in ihrem Rücken und ihren tauben Pobacken zu warten. Niemand konnte schlafen, und niemand konnte sagen, wo sie waren. Sie trösteten die Kinder und damit auch sich selbst.
    »Jetzt gehen bald die Türen auf«, sagten sie, »und dann sind wir in Ungarn. Bald ist alles vorbei, dann können wir darüber lachen.«
    Wieder ein Schlag, wieder Schmerzen und Tränen statt Lachen.

LÜGEN, IMMER NUR LÜGEN
    »Ungarn, Ungarn!«, riefen die Kinder und tanzten um ihre Eltern herum. Sie freuten sich über dieses Land, das sie nicht kannten.
    Ungarn bedeutete für alle schon fast das Ende der Flucht, die Freiheit, die Erfüllung all ihrer Träume. Ungarn war für viele die vorletzte Station. Nur die Grenze zu Österreich trennte sie noch vom Westen, von der Europäischen Union.
    Die Erwachsenen hatten sich wochenlang beraten, viele, die meinten, der Weg über Polen wäre der einfachste, waren zurückgeblieben und hatten sich von ihnen getrennt, und jetzt hatten sie es tatsächlich geschafft! Die Grenze zu Österreich lag einige Kilometer weiter, die Grenze, die angeblich nur aus einem unbewachten Zaun bestand, den sie übersteigen mussten, um am Ziel ihrer Träume zu sein.
    Seit Monaten waren sie unterwegs, seit Monaten hatte der Traum sie am Leben gehalten, hatten die Erwartungen sie ausgefüllt und sie alles überstehen lassen. Jetzt waren sie fast am Ziel. Endlich war ein Ende der Qualen und Strapazen abzusehen. Bald würde alles vorbei sein.
    Die Schlepper waren verschwunden, nachdem sie ihnen
gratuliert hatten. »Ungarn«, hatten sie gesagt und auf das weite Land hinausgeblickt. »Gratulation, ihr habt es geschafft!«
    Die Eltern hatten ihre Kinder in den Arm genommen, gedrückt und geküsst.
    Wieder waren sie auf zwei Räume aufgeteilt worden. Hesmat und sein Onkel kamen zusammen mit der afghanischen Familie, die nach Wien wollte, und zwei Kirgisen im kleineren Zimmer unter, das luxuriöser war als alle ihre bisherigen Verstecke. Überhaupt war das ganze Haus, in dem sie jetzt noch einmal warten mussten, schön eingerichtet. Zusammen mit den anderen Flüchtlingen teilten sie sich ein sauberes Bad, eine Küche, in der die Kinder der Familie zum ersten Mal einen Kühlschrank sahen, außerdem einen Fernseher, der nicht funktionierte.
    Das Versteck war ein Vorgeschmack darauf, was sie sich vom Westen erhofften: Friede, Sauberkeit und bescheidenen Luxus. Kurz vergaßen die meisten sogar ihren Hunger. Als sie dann endlich etwas zu essen bekamen, erwachten die Augen der Menschen zu neuem Leben. Für einen kurzen Augenblick, für

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