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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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erbärmlich.
    Was wollten sie von ihm, warum wurde er von seinem Onkel getrennt?
    »Du wartest hier«, sagte der Mann, »ich komme später wieder. Wenn du ihn erreicht hast, kannst du mit.« Dann versperrte er die Tür und ging wieder hinunter zu den anderen.
    Jeder Schritt auf der Folie raschelte. Das Rascheln machte ihn nervös. Dann fand er in einer Ecke den Grund für den Gestank: Neben einem Stuhl stand ein Kübel mit Exkrementen.
    Vergeblich versuchte er, das Fenster zu öffnen, das zugenagelt worden war. Der Raum war ein Gefängnis und das Plastik auf dem Boden machte ihm zusätzlich Angst. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
    Plötzlich hörte er Schreie aus dem Erdgeschoss. Im Stimmengewirr glaubte er, einen der Afrikaner wiederzuerkennen. Sie stritten sich mit den Schleppern. Sie fluchten in einer Sprache, die er nicht verstand. Jetzt klangen ihre Schreie nach Bitten, nach Schmerzen, nach Angst. Er hörte, wie die afghanischen Flüchtlinge schrien, und verstand, dass sie die Schlepper beruhigen wollten. Dann fiel ein Schuss. Für einen Augenblick herrschte Stille, Hesmat hörte nur noch sein Herz klopfen.
Dann fiel ein zweiter Schuss, und mit ihm begann das Weinen, das schließlich zu einem Wimmern wurde.
    Hesmat zitterte.
    Sayyid war skeptisch. »Wo bist du?«, fragte er.
    Hesmat verstand nur jedes zweite Wort, die Verbindung war schlecht. »Ich bin in Ungarn«, brüllte er in den Hörer. »Sie wollen, dass du ihnen jetzt das restliche Geld gibst. Hörst du mich?«
    Der Schlepper nahm ihm den Hörer aus der Hand und sprach mit Sayyid. Die Wortfetzen flogen so schnell zwischen Ungarn und Moskau hin und her, dass Hesmat nicht genau verstand, worum es ging.
    »Da«, sagte der Schlepper schließlich und hielt ihm wieder den Hörer ans Ohr.
    »Ich glaube ihnen nicht«, sagte Sayyid. »Irgendetwas stimmt da nicht!«
    »Aber was soll ich tun?«, fragte Hesmat. »Sie lassen mich sonst hier! Alle haben angerufen, alle haben das restliche Geld bezahlt. Wir sind doch fast da! Du musst Musa das restliche Geld geben!«
    »So nicht, Hesmat«, sagte die Stimme im fernen Moskau. »Gib mir ein wenig Zeit, ruf mich morgen wieder an.«
    »Nein, warte!« Aber Sayyid hatte schon aufgelegt.
    Der Schlepper griff nach dem Hörer und lauschte, bevor er Hesmat ins Gesicht schlug, den Plastikraum verließ und die Tür versperrte.
    Ein paar Stunden später sah er das erste Auto vor dem Haus, aber er konnte nicht erkennen, wer in den Wagen stieg. Es war dunkel und seine Tränen ließen die Szene verschwimmen. Der Wagen setzte sich ohne ihn in Bewegung. Er riss am Fenster, zerrte an der Tür, stampfte mit allem Zorn und aller Angst, die
sich in ihm aufgestaut hatten, auf der Plastikfolie herum. Seine Fäuste trommelten gegen das Holz, sein Fuß krachte gegen den Kübel mit seiner Notdurft, die gegen die Wände und auf die Folie klatschte.
    Der Wagen war längst abgefahren, als ihn der Schlepper weinend im Eck sitzend fand. Er führte Hesmat wieder ins Erdgeschoss. Als er die Tür mit dem Fuß aufstieß, sah Hesmat, dass die Afrikaner und eine Familie verschwunden waren, während sein Onkel und die anderen nach wie vor warteten.
    »Wenn du bis morgen nicht bezahlst, bleibst du hier«, sagte er.
    »Dein Freund muss den Rest zahlen!«, sagte die Frau. »Auf was willst du noch warten?«
    »Sayyid meint, dass etwas nicht stimmt«, entgegnete Hesmat.
    »Was soll nicht stimmen?«, meinte der Mann. »Was weiß der schon.«
    »Sie werden dich zurücklassen, und du wirst verrecken, wenn du nicht bezahlst! Wir haben nur Probleme durch dich!«
    Hesmats Onkel schwieg.
    »Sie sagen, wir wären schon längst weg, wenn du getan hättest, was sie von dir wollen«, schimpfte ein anderer. »Bezahl endlich deine Schulden, du Bastard!«
    »Aber was soll ich tun?«, sagte Hesmat. »Sayyid will nicht bezahlen.«
    Sein Onkel zuckte mit den Schultern.
    »Du musst ihnen vertrauen«, sagte die Frau.
    Aber Hesmat vertraute schon lange niemandem mehr. Erst recht nicht, nachdem die anderen zusahen, wie sie ihn schlugen. Sie ließen zu, dass die fremden Männer den Jungen vor ihren Augen schlugen. Niemand sagte etwas, alle schauten sie
weg und warteten nur darauf, dass das Betteln und die dumpfen Schläge aufhörten. Sie hörten den Jungen, wie er sie anflehte, ihm zu helfen, aber sie rührten keinen Finger für ihn. Sie wollten auf keinen Fall den Zorn der Männer auch auf sich ziehen und alles für diesen fremden, bockigen Jungen riskieren. Er war doch selbst

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