Hesmats Flucht
schuld. Die Schlepper verlangten schließlich nur, was ihnen zustand.
»Die Hälfte des Geldes, wenn es losgeht«, hatten sie gesagt, »den Rest, wenn ihr ankommt. Ihr ruft eure Leute zu Hause an und sie geben unserem Verbindungsmann das restliche Geld. Dann seid ihr frei.«
Der Junge musste nur bezahlen, was vereinbart war. Sie sahen seine blutige Nase und die Augen, die ihnen nie verzeihen würden. Er wehrte ihre Hände ab, die ihn umarmen wollten, und verkroch sich vor ihrem späten Mitleid. Seinen Onkel schaute er anklagend an. Doch schließlich hörten sie, was sie hören wollten. Er versprach, Sayyid anzurufen und zu zahlen.
»Ich lass mich doch nicht erpressen!«, schimpfte Sayyid. »Nicht von diesen Gaunern!«
»Aber sie bringen mich um!«, weinte Hesmat. »Gib ihnen das Geld doch endlich! Das Geld gehört mir und ich habe dir vertraut! Sie wollen nur ihr Geld, dann wird alles gut.«
»Aber etwas stimmt da nicht, Hesmat! Sie legen uns rein! Du bist tot, wenn ich bezahle, und du noch nicht über der Grenze bist!«
»Aber so verrecke ich hier auch, was nützt mir das dann«, weinte Hesmat. »Was nützt mir das alles, wenn ich tot bin?«
Sayyid schwieg.
»Pass auf dich auf«, sagte er schließlich, »und gib mir den Mann.«
Hesmat verabschiedete sich und drückte dem Schlepper den Hörer in die Hand. Der lauschte und legte wortlos auf.
Die Schläge hörten auf, zwei Tage später ging es in die Freiheit. Sayyid hatte bezahlt.
Walera, seine Freundin, hatte dem Gespräch wortlos gelauscht.
»Sie werden ihn umbringen«, sagte Sayyid schließlich. »Wir werden ihn nie wiedersehen.«
REINGELEGT
In der Abenddämmerung steckten die Schlepper sie auf die Rücksitze und in die Kofferräume von drei schwarzen Wagen, die sie die letzten Kilometer an die Grenze zu Österreich bringen sollten. Nach einer Stunde hielten die Wagen in einem kleinen Waldstück. Die Nacht war so dunkel wie der Kofferraum, den sich Hesmat mit einem zweiten Flüchtling geteilt hatte.
Hesmat fühlte sich wie ein alter Mann, als er sich streckte. Sein Rücken schmerzte von der langen Flucht, den harten Lagern, den Schlägen. Die äußerlichen Verletzungen waren großteils verheilt, die Knochen hingegen hatten keinen Schlag vergessen. Seine Füße schmerzten noch immer bei jedem Schritt, und dabei war er, mit Ausnahme der Kinder, der Jüngste der Flüchtlinge. Wie alt und müde mussten sich erst die Erwachsenen fühlen, die jetzt aus den Kofferräumen der anderen Wagen stiegen, sich von den Rückbänken stemmten, auf denen sie zu viert oder zu fünft hatten sitzen müssen.
Wieder waren Taschen und Gepäck verloren gegangen. Das wenige, was die meisten von ihnen noch besessen hatten, war im Lauf der Flucht immer weiter zusammengeschmolzen. Zuerst
blieben die großen Plastiktaschen zurück, später die großen Säcke, jetzt hatten die meisten nur noch Handgepäck, das ihnen an den schwachen Armen hing. Eine Familie hatte noch zwei große Taschen dabei. Sie waren damit Tausende Kilometer gereist, hatten sich tage- und wochenlang damit abgeschleppt. Dabei war wahrscheinlich alles, was sie darin trugen, wertloser Plunder, den sie nicht einmal auf dem schäbigsten Markt hätten verkaufen können. Aber es waren Erinnerungen, die sie in das neue Leben hinüberretten wollten und für die sie zusätzliche Qualen in Kauf nahmen. Niemand half ihnen beim Schleppen, jeder war mit seinem eigenen Gewicht beschäftigt. Viele sagten zu ihnen: »Lasst doch die Sachen liegen, sie nützen euch sowieso nichts.«
Hesmat begann, seine Schritte zu zählen.
»Da vorne ist die Grenze«, hatte der Fahrer gesagt und seinen Finger in die Nacht gestreckt. »Von hier aus geht’s zu Fuß! Zu gefährlich. Seid leise!«, hatte er den Schleppern erklärt und war zusammen mit seinen zwei Kollegen wieder zurückgefahren.
»Da vorne!«, hallte es in Hesmats Ohren wieder. Da vorne lag der Zaun, Österreich, diese Europäische Union, von der sie alle träumten. »Da vorne!« Immer wieder blickte er suchend in die Ferne, um das Land endlich zu sehen. Wie viele Schritte lag dieses da vorne noch weg?
Er versuchte, sich mit den Namen der Städte abzulenken, durch die er bisher gekommen war. Er erinnerte sich an Städte, die bloße Namen für ihn geblieben waren, an die Gefängnisse, die Verstecke, aber auch an Moskau und Duschanbe, an die wenigen Tage, in denen er keine Angst gehabt hatte, in denen ihm nicht die Furcht den Blick auf das Schöne, das es auf der Reise auch
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