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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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gegeben hatte, verstellt hatte. Er kämpfte gerade mit der Vorsilbe des ersten Ortes in Usbekistan, als ihn ein Schmerzensschrei aus seinen Gedanken riss.

    Der Verletzte schrie und fluchte, während die anderen ratlos um ihn herumstanden.
    »Er ist gebrochen«, sagte das schmerzverzerrte Gesicht, das Hesmat im Kegel der Taschenlampe zwischen den Umstehenden erblickte.
    »Beruhige dich«, sagten die anderen, »es muss ja nicht so schlimm sein.«
    Sie stellten ihn auf die Füße, aber sobald sie seine Schultern losließen, schrie er erneut auf und fiel zu Boden. Nach dem zweiten Versuch flossen ihm Tränen über die Wangen, während er zusammengesunken im Gras saß und seinen Unterschenkel abtastete.
    Am lautesten fluchten die Schlepper. Einer versuchte, mit seinem Mobiltelefon jemanden anzurufen, klappte das Gerät aber wieder zu. »Kein Empfang.« Er stellte sich neben den Verletzten. »Wir müssen weiter«, sagte er. »Entweder du reißt dich zusammen oder du bleibst hier.«
    Die Frau des Verletzten fiel ihrem Mann unter lautem Geschrei um den Hals. »Ihr könnt ihn doch nicht hierlassen! Wenn er zurückbleiben muss, bleibe ich auch.«
    Die Gruppe wurde unruhig und das Schreien und Diskutieren machte die Schlepper sichtlich nervös.
    »Seid ruhig«, befahl einer, »hier können überall schon Kontrollen unterwegs sein, und schaltet endlich die verfluchten Taschenlampen aus, ihr Idioten!«
    Die Lichter erloschen, stattdessen leuchtete die Milchstraße über ihren Köpfen. Mit dem Licht verstummten auch die lauten Stimmen.
    »Wir können ihn nicht hierlassen«, flüsterte jemand, »nicht so knapp vor dem Zaun. Was drüben passiert, ist halb so schlimm, dort werden sie ihm helfen. Aber hier wird er verrecken, die Schlepper werden ihm sicher nicht helfen.«

    Der zweite Schlepper, der sie begleitete, klappte verächtlich sein Mobiltelefon zu. »Du musst warten, bis sie dich holen kommen«, sagte er kühl.
    »Er kommt mit«, entgegnete Hesmats Onkel, »wir werden ihn tragen.«
    »Auch gut«, sagte der Schlepper, »dann schaut, dass ihr weiterkommt, und seid verdammt noch mal leise. Es ist nicht mehr weit.«
    Mit der Angst, selbst umzuknicken, und dem Verletzten, den die Männer abwechselnd stützten, kamen sie jetzt nur noch langsam voran. Die Schlepper wurden mit jedem Mal, das sie warten mussten, ungeduldiger. Der Verletzte stöhnte und die Stille verstärkte jedes Geräusch. Hesmat schien es, als halle der ganze Wald vom Schmerz des Mannes wider. Man hörte sie sicher schon von Weitem und schließlich blieben die Schlepper stehen.
    »So geht das nicht, verdammt, du verrätst uns alle. Keine Widerrede«, befahl er, »wir trennen uns. Du bleibst mit deiner Frau hier, Dimitov bleibt bei euch, ihr kommt nach. Die anderen gehen mit mir und Pawel. Und ich will kein Wort hören.«
    Sie legten den Verletzten ins Gras. Er verfluchte sie nicht, schrie sie nicht an, machte ihnen keine Vorwürfe. Er saß nur still im Gras und hielt die Hände seiner Frau, die sich neben ihn gesetzt hatte.
    Hesmat wusste nicht, ob es die Gewehre der Männer, die unabänderliche Situation oder ihr blinder Wille zu überleben war, aber keiner widersprach. Keiner kam auf die Idee zu sagen: »Es geht schon noch, wir werden es gemeinsam schaffen.« Es gab nur diesen Grenzzaun in ihren Köpfen. Sie beruhigten ihr Gewissen, indem sie sich zuflüsterten: »Sie schaffen es. Dimitov wird sich um sie kümmern, er ist ja kein Unmensch. Die packen das auch.«

    Es gab immer Mittel, sich selbst zu beruhigen, aber das Weinen der Frau, das sie noch ein Stück begleitete, führte ihnen ihren Egoismus gnadenlos vor Augen.
    »Fasst ihn nicht an!«, fluchte der eine Schlepper. »Seid ihr verrückt? Wollt ihr sterben?« Er konnte die Hand der Frau, die sich nach dem Draht ausgestreckt hatte, gerade noch zurückreißen.
    »Reg dich nicht auf«, sagte der zweite, »kein Strom, sie müssen sparen.« Sie lachten leise.
    Die Schlepper trieben die Gruppe zwanzig Meter zurück in den Schutz einer Baumgruppe. Von hier aus blickten sie ungläubig in die Dunkelheit und versuchten, den Zaun, den sie gerade fast berührt hätten, zu erkennen. Er war hoch, Hesmat schätzte ihn auf fünf Meter. Er war quasi aus dem Nichts aufgetaucht. Als sie auf das Feld hinaustraten, standen sie plötzlich vor der letzten Hürde. Hesmat war enttäuscht. Das war der Zaun? Das war alles? Er war zwar hoch und wirkte gefährlich, aber er blieb trotz der Drähte und dem Stacheldraht ein Zaun, wie er

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