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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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überall stehen könnte. Das Land dahinter sah nicht anders aus als das Land, das sie gerade durchschritten hatten. Die Nacht dahinter war dieselbe wie auf dieser Seite.
    Er wusste nicht, was er genau erwartet hatte, aber er war irgendwie enttäuscht. Trotzdem musste er lachen. Die Freude der Gruppe riss ihn einfach mit, und die Schlepper hatten alle Mühe, wieder für Ruhe zu sorgen. Sie waren noch 17 Flüchtlinge, ohne die zwei, die sie vor ein paar Kilometern zurückgelassen hatten. Keine Spur von den anderen, die im selben Haus gewesen waren und sich mit anderen Autos auf den gleichen Weg gemacht hatten.
    Sie waren am Ziel und starrten auf den Zaun, als wäre er der Eingang der blauen Moschee in Mazar. Es schien, als seien
die Drähte das Schönste, das sie seit Langem gesehen hatten. Erst als einer der Schlepper bemerkte, dass es wohl nicht so einfach sein würde, wie sie es sich vielleicht vorstellten, kehrte wieder Ruhe ein.
    Die beiden letzten großen Taschen blieben zurück, aber die Aussicht, den Zaun zu überwinden, schien die Frau sogar über diesen Verlust hinwegzutrösten.
    Die Schlepper hatten ihnen den Ablauf immer und immer wieder erklärt. Sie durften nichts falsch machen. »Die Grenzposten sind gefährlich«, sagten sie. »Sie lauern auf ihren Hochständen in den Bäumen.« Die Blicke der Flüchtlinge wanderten über die Köpfe der Schlepper hinweg auf die andere Seite des Zauns. »Sie schießen ohne Vorwarnung. Nein, ihr könnt sie nicht sehen. Verdammt, jetzt hört zu! Ihr müsst alles zurücklassen, was ihr nicht leicht tragen könnt. Ihr robbt einzeln unter dem Zaun durch! Wir beide schleichen uns vor, heben den Zaun an, einer nach dem anderen folgt uns, und ja kein Ton! Ihr kommt zu uns, kriecht unter dem Zaun durch. Alles, was nicht durchpasst, bleibt zurück. Es wird nichts drübergeworfen, habt ihr verstanden, nichts! Das lenkt nur die Aufmerksamkeit auf uns. Wer durch ist, wartet nicht! Habt ihr gehört, wartet nicht auf die anderen! Ihr lauft bis zur Waldgrenze auf der anderen Seite. Dort versteckt ihr euch und wartet. Wenn ihr vollzählig seid, geht nach links. Es sind ungefähr drei Kilometer durch den Wald. Ihr müsst laufen und leise sein, überall können Grenzposten sein. Vergesst nicht: Sie schießen, ohne zu fragen. Ihr sammelt euch also und lauft nach links. Nach drei Kilometern trefft ihr auf Bahnschienen. Diesen Schienen folgt ihr wieder nach links und nach ungefähr zwei Kilometern kommen ein paar Häuser. Dort wartet unser Kontaktmann. Er hat Essen für euch und bringt euch mit dem Bus nach Wien.«

    Er sprach so schnell, dass kaum jemand alles verstand. Es gab so viel zu beachten, so viel, das gefährlich klang, so viel, das sie verwirrte.
    »Wie viele haben sie schon erschossen?«, fragte eine Frau.
    Die Frage kam so unerwartet, dass der Schlepper stockte. »Ich weiß nicht, zu viele auf jeden Fall. Sie dürfen niemanden hineinlassen. Merkt euch das: Wer nicht vorsichtig ist, ist tot!«
    Er musste alles noch zweimal wiederholen, bis auch der Letzte seine Befehle verstanden hatte. Als sie sich zum Zaun schlichen, um den Draht anzuheben, flüsterten einige leise Gebete, andere gingen noch einmal den genauen Ablauf der nächsten Minuten durch. Die Schlepper hatten die Reihenfolge festgelegt. Sie wussten, was sie taten, dachte Hesmat, ansonsten gäbe es spätestens jetzt das totale Chaos. Jeder hatte Angst vor diesem Zaun, jeder glaubte, schon jetzt das Klicken der Gewehrabzüge zu hören, das Abfeuern der Waffe, den Schmerz der Kugel zu spüren, die sich in ihr Fleisch bohren würde. Dann kam das Signal, der Erste lief los, irgendwann stieß jemand Hesmat an.
    »Lauf und schlaf nicht«, sagte sein Onkel.
    Er spürte, wie der Stacheldraht sich an seiner Hose verhängte und ein tiefes Loch in den Stoff riss, hörte das Keuchen, als er endlich den Wald erreichte, wo er das Gefühl hatte, die ganze Gruppe hätte nur noch auf ihn gewartet, und ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, stapften sie alle gesund und in Sicherheit den Bahndamm entlang. Es dauerte eine ganze Weile, bis er realisierte, dass sie es geschafft hatten. Sie hatten alle überlebt, kein einziger Schuss war gefallen.
    Sie lachten, Hesmats Onkel begann, mitten auf dem Bahndamm zu tanzen. Sie hatten es tatsächlich geschafft. London war zum Greifen nahe, hier im Westen würde es ihnen gut gehen.
Selbst wenn die Polizei sie aufgreifen würde, bräuchten sie keine Angst zu haben. »Dort schlägt dich niemand, sie

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