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Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Titel: Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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kann eine schmächtige Studie sich nur verstecken. Hocke hat alle Tagebücher zu Rate gezogen, die überhaupt greifbar waren, und sie in zehn Kapiteln unter Gesichtspunkten wie «Selbst- und Weltbeobachtung», «Steigerung und Auflösung der Person» oder «Chronik des Absoluten» geordnet, ohne dabei etwa das Kapitel «Liebe, Erotik, Sexualität» zu unterschlagen, welches sich in instruktive Unterkapitel wie «Ideal, Angst und Versagen» oder «Androgyne Verwirrung» auffächert.
    Die Leitfrage, die sich der Gelehrte zu Beginn seiner Untersuchung stellt, ist die gleiche wie unsere: Was sind die Antriebe fürs Tagebuchschreiben? Ganz allgemein gesprochen, sieht Hocke zwei religiös-ethische Forderungender griechischen Antike fortwirken: das «Erkenne dich selbst» und die Aufforderung «Werde, der du bist». Letztlich seien es Sokrates, Platon und Aristoteles gewesen, denen sich die Literatur der Selbsterkenntnis in Europa verdankt.
    Mit dieser Prämisse schreitet Hocke durch die kommenden Epochen. In der Moderne angekommen, zitiert er die Begründung Oscar Wildes fürs Schreiben eines Tagebuchs: Der Mensch neige dazu, sich im Rückblick zu betrügen; ein Tagebuch zu führen sei darum die einzige Möglichkeit, die Erinnerung unverfälscht zu erhalten. Darum eben könne und müsse alles darin seinen Platz finden: ein alltäglicher Besuch und eine Verdauungsstörung, die erste Idee zu einer geistigen Arbeit, das Mischen eines Schlaftrunks für die Nacht, eine Taufe genauso wie ein Diebstahl, ein Todesfall ebenso wie ein Spaziergang.
    Wilde hat natürlich Recht, was die nachträgliche Verfälschung der Erinnerung betrifft. Schon Friedrich Nietzsche hatte es in einen Aphorismus gefaßt:
    «Das habe ich getan», sagt mein Gedächtnis. «Das kann ich nicht getan haben», sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.
    Das gründliche Tagebuch beugt solchen späteren Duellen vor. Das allergründlichste und längste eines solchen allesabdeckenden Tagebuchs stammt von dem Schweizer Henri-Frédéric Amiel. Wer sich auf dieses Textmassiv begeben will, hat nicht weniger als 17.000 Seiten vor sich – vielleicht nicht einmal Gustav René Hocke hat hier jeden einzelnen Gebirgspaß erforscht. (Eine schmale Auswahl hat der Amiel-Verehrer Leo Tolstoi persönlich zusammengestellt).
    Warum so exzessiv? Die Gewohnheit kann zur Sucht werden oder zum Zwang. «Keep a journal long enough, and one day it will keep you», hat es am knappsten Mae West formuliert. Über die Gründe für sein penibles Tagebuch hat sich der seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Genf lehrende Professor für Ästhetik selbst Rechenschaft abgelegt. Sie läuft letztlich auf ein Wort hinaus: Einsamkeit. In dieser Einsamkeit war Amiel das Tagebuch sein Zwiegespräch, seine Gesellschaft, sein Gefährte, sein Vertrauter, sein Trost, sein Gedächtnis, sein schmerzstillendes Mittel, sein Echo, der Behälter seiner intimen Erfahrungen, sein psychologischer Wegweiser, sein Schutz gegen das Rosten der Gedanken, sein Vorwand zu leben … auch wenn es ihn manchmal, wie er nicht ohne Witz anfügt, an ein bestimmtes Möbel erinnert, das zugleich ein Schirm, ein Stock und ein Sessel sein solle «und in all diesen Funktionen unbrauchbar».
    Viele Gründe jedenfalls für die vielen tausend Seiten. Ein von Amiel übergangener, aber von Hocke ins Augegenommener Grund fehlt allerdings, und er ist einer der wichtigsten. In der Heimlichkeit des Nur-für-sich-Schreibens kann man nicht nur, wie Gottfried Keller, gemütlich vor sich hinschmollen. Man kann auch ungestraft gegen Feinde, Kritiker und selbst das Ehegespons wettern. Hocke führt die Beispiele von Leo Tolstoi, André Gide und Charles Baudelaire auf. Tolstoi tobte gegen seine Frau und überschüttete sie mit Vorwürfen, unter anderem deswegen, weil sie seine Tagebücher, die er ihr anfangs noch freiwillig zeigte, inzwischen heimlich lese – wie sie in den ihrerseits geführten Tagebüchern sogar zugibt. Das Ehedrama im Spiegel dieser Tagebücher ist ein furchtbares – da halfen alle guten Vorsätze in puncto Kartenlegen und Turnen nichts. Es endete damit, daß Tolstoi, bevor er 1910 aus der Ehe in den Tod flüchtete, sein Geheimtagebuch auf kleinen Zetteln führte, die er in seinem Stiefel versteckte.
     
Rachebäder und Titanismus
    Der 1869 in Paris geborene Romancier und Nobelpreisträger André Gide rechnete nicht mit seiner Frau ab, die eher umgekehrt dazu Grund gehabt hätte,

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