Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
teilte er doch die Vorlieben des Grafen von Platen, sondern mit seinen Kollegen.Auch gegen Marcel Proust wird darin zwischen viel Lob zart gestichelt, vor allem gegen seine kleinen grammatischen Schnitzer – den Verfasser der
Suche nach der verlorenen Zeit,
den er einen
grand maître en dissimulation,
einen Meister der Verstellung, nennt, hatte Gide nämlich zunächst verkannt und nur als Snob eingeschätzt.
Der Ahnherr der modernen Lyrik Charles Baudelaire, der 1857 wegen Obszönitäten in seiner Gedichtsammlung
Les Fleurs du Mal
verurteilt wurde, rechnet gleich mit ganz Frankreich ab. Das Buch, von dem er träume, schreibt er aus Belgien an seine Mutter, sei ein Buch des Grolls und der Rachsucht; er habe ein Bedürfnis nach Rache wie ein ermüdeter Mensch nach einem Bad. Ein Grund für dieses Rachebedürfnis mag gewesen sein, daß ihn der Reich-Ranicki seiner Epoche einfach übersehen hatte: der Meister der
lundis
genannten Autorenportraits, der gefürchtete Kritiker Sainte-Beuve. Aber auch Sainte-Beuve führte Tagebuch, und auch er nimmt darin das Baudelairesche Bad. Nicht ohne Grund nannte Sainte-Beuve seine
Cahiers intimes
seine
poisons,
seine Giftkammer und sein Rache-Arsenal.
Undenkbar, daß dergleichen zu Lebzeiten, wenn überhaupt je, ans Licht der Öffentlichkeit drang! Die Giftkammern sollten verschlossen bleiben; die Rachebäder dienten der persönlichen Hygiene, nach Benutzung mochte man sie tunlichst ablassen.
Was zum Glück nicht immer geschah. Ganze fünfundsechzig Jahre mußten verstreichen, bis die hochgeheimen
Journaux intimes
Benjamin Constants entziffert wurden, ein Höhepunkt der Tagebuchliteratur eben darum, weil nie für fremde Augen bestimmt. Unter vielen Verschlüsselungen beschreibt der 1767 in Lausanne geborene Publizist und Staatstheoretiker Constant darin seine Liebschaft mit der Schriftstellerin und Salonlöwin Madame de Staël, mit der er immer im Hader lag und von der er doch ewig nicht loskam. Gerade weil er nicht an postume Leser denkt, gibt Constant sich ganz, wie er ist – ein alles andere als ansprechender Geist, leider, stets unzufrieden, stets kalkulierend, stets auf der Lauer nach Aufstieg; ein Mann, wie Sainte-Beuve später urteilte,
plus distingué qu’heureux et plus intéressant que sage.
Was vielleicht auch auf einen anderen, von Sainte-Beuve unfehlbar wieder übersehenen Schriftsteller zugetroffen hätte: auf Henri Beyle alias Stendhal, den Verfasser des 1830 veröffentlichten Romans über einen Aufsteiger in der napoleonischen Zeit
Le Rouge et le Noir
und der unsterblichen
Kartause von Parma.
Auch Stendhal ist in seinem Tagebuch vollkommen aufrichtig, auch er legt beträchtlichen Ehrgeiz an den Tag. Anders als sein Vorgänger Constant aber hat er einen ausgeprägten Sinn für Selbstironie. Etwa, wenn er im Tagebuch der Italienreise die Reaktion seiner Kumpane über sein physisches Versagen vor derberühmten Kurtisane Alexandrine schildert, die «ohne ein anderes Kleid als ihre Schönheit» vor ihm erschienen war.
Das Gelächter währte zwei Minuten; Poitevin wälzte sich auf dem Teppich. Alexandrines maßloses Staunen war unbezahlbar; so etwas war ihr noch nie passiert.
Hocke überliefert die Episode im Unterkapitel «Titanismus, Satanismus und Frivolität».
The Importance of Being Earnest
Die Frage, ob der Diarist bei der Niederschrift auf die Mit- oder Nachwelt schielt, stellt sich immer wieder neu. Das Tagebuch, das in Frankreich im Jahr 1887 eine gewaltige Nachahmungswelle vor allem unter jungen Damen ausgelöst hatte, war von Anfang an auf Veröffentlichung angelegt. Marie Bashkirtseff, eine in Paris lebende Künstlerin aus russischem Landadel, die mit sechsundzwanzig Jahren an Tuberkulose starb, hatte ein halbes Jahr vor ihrem Tod ein Vorwort zu ihrem freizügigen
Journal
verfaßt. Die Mode des veröffentlichten Tagebuchs breitete sich so rapide aus, daß man auch jenseits des Kanals davon Wind bekam. Sieben Jahre nach Bashkirtseffs Tod wurde in London dieKomödie
The Importance of Being Earnest
uraufgeführt, in der sich Oscar Wilde unverkennbar über sie lustig macht. Eine Cecily wird darin gefragt, ob sie wirklich ein Tagebuch führe und ob man einen Blick hineinwerfen dürfe? Oh nein, es seien ja nur Aufzeichnungen über die Gedanken und Eindrücke eines sehr jungen Mädchens, und also für die Publikation bestimmt. Wenn es als Buch erscheine, werde er sich hoffentlich ein Exemplar besorgen.
Wie verändert es ein Tagebuch, wenn man an die
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