Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Veröffentlichung denkt; und denkt man jemals daran? «Do I ever write, even here, for my own eye?», fragt sich Virginia Woolf im Tagebuch. «If not, for whose eye? An interesting question, rather.»
Eine überhaupt nicht leicht zu beantwortende Frage. Elias Canetti befand dazu strikt, obwohl gerade er ein Mythomane vor dem Herrn: In Tagebüchern spreche man zu sich selbst, wer das nicht könne, «wer eine Zuhörerschaft vor sich sieht, sei es auch eine späte, sei es eine nach seinem Tod, der fälscht».
Die zwingende Folge wäre, daß es alle so halten müßten wie der Arzt Ezra Jennings aus dem
Monddiamant
von Wilkie Collins. Dr. Jennings läßt testamentarisch verfügen, daß sein Tagebuch mit ihm ins Grab gelegt werde. Das ist der radikalste Schritt, aber ein seltener. Auch Canetti ging ihn nicht, traf jedoch die Vorsorge, die schon andere vor ihm getroffen hatte, wenn auch nicht immer mit Erfolg,wenn man an den ertappten Boswell denkt. Canetti verwendet eine abgeänderte Kurzschrift, die «niemand zu entziffern vermöchte, der nicht eine Arbeit von Wochen daran wenden würde». So konnte er aufschreiben, was er wollte, ohne je einem Menschen zu schaden oder wehzutun, «und wenn ich endlich alt und klug geworden bin, beschließen, ob ich es ganz verschwinden lasse oder einem geheimen Ort anvertraue, wo es nur durch Zufall, in einer unschädlichen Zukunft, aufzufinden wäre».
Canetti formuliert damit, was der amerikanische Essayist Joseph Epstein das ideale Tagebuch nennt: Man spricht darin mit sich selbst, ist aber einverstanden, daß andere lauschen, sobald man gestorben ist. So hielt es auch der polnische Autor Witold Gombrowicz, der zwar drei Bände Tagebücher, die von 1953 bis zu seinem Tod 1969 reichen, veröffentlichte, im Vorwort aber schon wissen ließ, es gebe da noch einen privaten Rest. «Ich will keine Schwierigkeiten riskieren. Vielleicht irgendwann … Später.» Dieser intimere,
Kronos
benannte Teil ist fünfundvierzig Jahre nach seinem Tod in einem Krakauer Verlag erschienen; bei der Buchvorstellung war sogar die Witwe anwesend. Sie störte sich nicht daran, daß die Nachwelt aus diesem sekretierten Teil jetzt über die Strichjungen vom Bahnhof Zoo erfuhr, für die sich Gombrowicz offenbar mehr interessiert hatte als für langweilige Besuche bei Günter Grass.
Selbst bei dringendstem Willen zur Ehrlichkeit bleibt eine gewisse Verzerrung beim Tagebuchschreiben nicht aus. Julien Green, dessen Tagebücher es schon vom Umfang her mit denen Amiels aufnehmen können, wollte darin vor allem mehr Klarheit über sich selbst gewinnen. Im Rückblick aber fand er, daß sie einen höchst ungenauen Eindruck von ihm verschafften. Was unter anderem daran liegt, daß die Traurigkeit, wie schon Amiel wußte, eher zur Feder greift als die Fröhlichkeit. Der Tagebuchschreiber erscheint im nachhinein immer melancholischer, als er es in Wirklichkeit war. Auch André Gide erkannte sich später in seinen Tagebüchern kaum wieder.
Von Fälschung kann darum natürlich nicht die Rede sein – wobei auch die vorkommt, zur Empörung der späteren Entdecker. Anaïs Nin, die Kultfigur befreiter weiblicher Sinnlichkeit der späten siebziger Jahre, hatte in ihren veröffentlichten Tagebüchern dramatisch die Umstände ihrer Fehlgeburt beschrieben. In der unzensierten Fassung stellte sich heraus, daß es eine Abtreibung war. Die Leserinnen, die mit ihr mitgetrauert hatten, fühlten sich zu Recht betrogen.
Nicht was die Akkuratesse, aber was das Volumen angeht, wetteifert auch Anaïs Nin mit Amiel. Ihre Tagebücher, neunzig schwarz gebundene, schon zu Lebzeiten in einem Safe aufbewahrte dicke Hefte, umfassen zwischen 15.000 und 30.000 Seiten. Die Chancen, daß sich nochandere Fälschungen darin befinden, sind, vorsichtig ausgedrückt, hoch. Anaïs Nin führte neben ihrem Haupttagebuch noch ein Nebentagebuch des bezeichnenden Titels
Lies.
Aus Lügen, aus Myriaden süßer kleiner Selbsttäuschungen und Verklärungen, bestand ihr ganzes Leben. Biographen seufzen, denn auf keine ihrer Angaben ist Verlaß. Weder weiß man, wo sie 1903 geboren wurde, ob in Neuilly bei Paris oder doch in Havanna, noch darf man sich darüber wundern, wenn nach ihrem Tod in Los Angeles 1977 zwei Traueranzeigen von zwei Gentlemen erscheinen, die sich beide als ihre Gatten bezeichnen und es vermutlich auch beide waren. Die Geliebte Henry Millers und ungezählter anderer Bohemiens wurde durch kein literarisches Werk, sondern nur ihre offenherzigen
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