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Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Titel: Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Statur» –, Doderer also schreibt im Tagebuch, in demnicht zu unterscheiden ist, ob mit dem Kürzel «DD» jene dicken Damen oder doch sein Roman
Die Dämonen
gemeint sind:
    Gegen das Sexuelle ankämpfen zu wollen erscheint mir närrisch. In der gesamten griechischen Mythologie, wo doch die Heroen sogar gegen die Götter losgehen, findet sich keiner, der mit dem himmlischen Raubersbuam Eros anbindet, nicht einmal der Herakles, der ja sonst kaum vor irgenwas zurückscheute …
    Und darum müsse man im Gegenteil für das Sexuelle kämpfen. Oder am Ende doch nicht? «Wenn ich mich frage, was ich denn eigentlich und wirklich haben möchte und mir wünschte», schreibt er drei Jahre später,
    so wäre es – viel Geld, um in einer Folge schwerster sexueller Excesse, sinnloser Saufereien und dementsprechender Gewalthändel endlich und endgültig unterzugehen. Statt dessen hab’ ich das weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend gewählt.
    Das Abenteuer der Tugend – das hätte auch auf den Joseph Thomas Manns gepaßt, bei dem man solche Stellen im Tagebuch allerdings nicht fände. Sind sie immer so sinnlich ansprechend, die Dodererschen Journale, oder würde man übertreiben, sie einen wahren Hitchcock zu nennen? Nehmen wir eine andere Probe:
    Formata und signata∗
Jede materiologische Stufe stellt in Bezug auf die nächsthöhere eine materia signata dar, welcher dort schon eine materia formata im Verhältnisse der Seltenheit gegenüber steht. Beispielsweise ist der psychologische Raum mit der materia signata der Psychik erfüllt, aus welcher die seltenen Etwas-Punkte grammatischen Seins ekstatieren. Jene Psychik aber bildet eine materia formata gegenüber der Stufe bloßer Empfindung ohne eigentliches Bewußtsein.
    Nein – vielleicht eher doch nicht. Wohl dann doch kein Hitchcock. Wir ziehen den Vergleich als zu ekstatisch zurück.
    Aber hin und wieder glitzert es im terminologischen Sand der
Commentarii,
wie Doderer ab 1934 seine Tagebücher nennt; hin und wieder fällt ein Lichtstrahl in den dunklen Wald, in dem er, sich Mut machend und etwas Gräßliches zurückdrängend, wie man zu spüren meint, die immer gleichen Triolen vor sich hin pfeift – «Apperception», «zweite Wirklichkeit», «das Pseudologische» –, ab und zu also finden sich schöne Stellen:
    Sonntag, 30 November. Sehen wir in unser Inneres, so ist’s wie ein gestörter Teich durch die Steine des Wort-Denkens, die da unaufhörlich hineinfliegen …Man muß lange warten, lang durch den endlich beruhigten Spiegel gegen den Grund blicken, bis im geklärten Wasser sich endlich wieder was regt und heranschwimmt: silbernes Fischlein, ich grüße Dich! – schon aber fesselt mein Aug’ tiefere Bewegung, am Grunde: ja, es ist ein langsam kriechender Krebs; und wer weiß, wer weiß, was Du da drunten noch alles wirst zu sehen bekommen … Wir haben gestört. Nun rühren wir uns nicht mehr … Kälte und Nüchternheit steh’ uns immer bei! Laß’ uns das nüchterne Chaos sehen, und nicht von den Reflexen der zittrigen Oberfläche geblendet werden, wo unsere Wörter und Worte wie berauschte Korken tanzten …
    Hinter einer solchen Passage versteckt sich ein ganz eigentümliches Schreibprogramm. Es läuft darauf hinaus, daß Doderer dem bewußten Schöpfungsvorgang nicht traut. Es kommt immer noch etwas geheimnisvoll anderes dazu. Er werde nie verstehen können, daß er umfängliche, komplizierte und gelungene Arbeiten habe hervorbringen können: «der Scherben, der ich bin, macht das Gewächs unverständlich». Es ist etwas Meditatives, ja Mystisches in der Versenkung, aus der sich das Werk erhebt. Doderer faßt es in folgendes Bild:
    Denken wie der Tiger springt; schreiben wie ein Bogenschütze schießt; wachsam sein und scharf sehen wie ein Raubvogel in den Lüften: das zusammen macht einen Autor.
    Wie aber schießt der Bogenschütze? Er schießt, ohne zu zielen, in dem Vertrauen, daß Pfeil und Ziel einander suchen. Jedenfalls der Zen-Bogenschütze macht es so, wie Doderer es in einer berühmten Schrift des japanalogisch halbgebildeten Professors Herrigel lesen konnte. Was dort stand über die absichtslose Gespanntheit, aus der heraus der Schuß vom Schützen abfällt wie eine reife Frucht, was dort entwickelt wurde über die Idee einer Meisterschaft der kunstlosen Kunst – man fühlt sich mitten in Doderers
Commentarii
versetzt.
    Wie sein Kenner Martin Mosebach schreibt, wußte Doderer, daß Zen eine Praxis ist und keine Theorie – nichts, was man

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