Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
an die Handlung hat der alte Herr längst aufgegeben, statt dessen bietet er immer öfter Veduten an, am liebsten von Parks mit Schlössern und Stuben, in denen ruhiggestellte Frauen am Stickrahmen sitzen – man möchte schwören, sie arbeiten auch an Bildern von Schlössern mit Parks und leisen Frauen mittendrin.
Schwören oder doch vermuten. Der Philosoph, ernst, aber spottbereit, liest nicht nur Kafka oder Goethe, er verschmäht auch die Tagespresse nicht.
Ob man die Pointe an der Verhaftung von Karadzic erfaßt hat: daß sich der seit Jahren gesuchte Massenmörder so lange in der «Identität» eines Heilpraktikers verbergen konnte? Ein großer Tag für die Gerechtigkeit, so steht es in allen Zeitungen, man vergißt hinzuzufügen, ein schlechter Tag für die alternative Medizin!
Solche Pointen läßt Sloterdijk sich natürlich nicht entgehen. Seine Notizen sind reich an Nebenbemerkungen, die andere für ihren Aphorismenband aufsparten. Was ist das Schicksal? Der «in Notwendigkeit eingeschweißte Zufall». Kulturpessimisten sind
mürrische gate keeper am Eingang zu den Schatzhäusern der Hochkultur, die spüren, daß niemand mehr durch das von ihnen bewachte Tor gehen will.
Sloterdijk ist das genaue Gegenteil, er lädt den Leser ein, mit ihm durch die Hallen des Wissens zu ziehen. Es gibt nichts, was ihn nicht interessiert, deshalb erfährt man aus
Zeilen und Tage
so viel mehr als aus den Dichter-Diarien. Man erfährt, daß die Menschwerdung sich entscheidend der Verkümmerung der Kiefermuskeln verdanke; durch diese Verkümmerung hörten die Muskeln auf, die Schädelknochen zu früh in ihre Endposition zu pressen; von da an: Raumgewinn für Gehirnvergrößerung, für Neocortex, Kehlkopfspiel und Sprache.
Das dafür notwendige Bewußtsein? Allem Anschein nach hat es den Charakter eines Nebeneffekts. Ursprünglich eine Art Kontroll-Lampe, die über den Fluß der Wahrnehmung wachte, war es eine weitgehend funktionslose Extraleistung des Gehirns – Luxus, vor dem die Frage nach dem Sinn demissioniert. Die Folge?
Was wäre, wenn der adäquateste Gebrauch des rätselhaften Geschenks darin bestünde, es hinzunehmen und auf sich beruhen zu lassen? Nicht ganz. Ein wenig Betonung schadet nicht, sonst wäre diese leise Euphorie beim Blick aus dem Hotelfenster nicht möglich, wenn das grüne Wasser in der Gracht glitzert.
Sloterdijk hat viel Sinn für die Schönheiten der Natur, die er mit dem Ingenium eines Dichters beschreibt. Weniger Sinn, oder Sympathie, hat er für die Religion. Sein Ton kann sehr kühl werden, wenn er über die unerfreuliche Rechtspraxis des frühen Christentums nach Konstantin spricht:
Unter den ersten christlichen Kaisern setzte im vierten Jahrhundert eine Brutalisierung der Strafgesetzgebung ein, die jedem kultivierten Römer der Cicero-Zeit kalte Schauer über den Rücken gejagt hätte. Da regnete es Höchststrafen für alles mögliche auf das Volk herab. Der Wille zum Schlimmsten brauchte nur zwischen den vier absoluten Abscheulichkeiten zu wählen, die das christlich regierte Rechtswesen im Angebot führte, der Kreuzigung, die traditionell als summum supplicium galt, der Lebendverbrennung, der Zerfleischung durch wilde Tiere in den Arenen oder dem Eingenähtwerden in Ledersäcke, die man in Schlangengruben aussetzte.
Fairerweise muß man hier Sloterdijk allerdings an Caligula erinnern, den er selber anführt und der auch nicht besser war. Caligula meinte, hätte das römische Volk nur einen Kopf, er würde ihn abschlagen lassen.
Wie nicht nur an dieser Stelle deutlich wird, ist der Mann, der das Raddatzsche Credo: «Nur das Existentielle zählt» als irreführend bezeichnet: «Was zählt, ist das gut Gesagte» – wie man immer wieder bemerken wird, ist dieser Mann, auch wenn er alles tut, um es zu verstecken, unter anderem ein Moralist. Der Eindruck, er puste vor allem Wortseifenblasen in die Luft, trifft es gerade nicht. Anders, als das Vorurteil es will, ist Sloterdijk kein Schwurbler, sondern ein Mann des klarsten Menschenverstands. Oft gibt er auf komplizierte, durch Begriffe vernebelte Fragen ganz handfeste Antworten. Wie viele Bücher, um nur ein Beispiel zu nennen, hat man seit Theodor Adorno und Hans Blumenberg schon über den Mythos verfaßt! Aber was eigentlich will die alte und neue Mythologie? Ganz einfach, wenn es nach Sloterdijk geht. Der Mythos enthalte die Antwort des Zeitgeists auf die Fragen: «Wie erklären wir den Unglücklichen ihre Lage? Und wie bringen wir die
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