Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
irgendwie über Begriffe aufnehmen könnte, wenn man die Begriffe nicht durch eigene unverdrossene Übung mit Erfahrung gefüllt hat. Auch das oft quälend Repetitive erklärt sich, oder erklärt uns Mosebach, als ein Ausdruck dieser fast zen-artigen Meditation. Die
Commentarii
sind darum weniger Dichter-Tagebuch als den Tagebüchern religiöser Praktiker, Mystiker, Asketen vergleichbar. Sie sind ein Dokument seelischer Übungskontrolle.
«Erst bricht man Fenster», schreibt Doderer. «Dann wird man selbst eines.» Und der Schriftsteller, man erinnert sich an den Teich und das silberne Fischlein, vergesse nie: «Worte sind wie die Haut auf einem tiefen Wasser.»
Notizen der Philosophen. Sloterdijks Friseur
Verzeihung, kleiner Irrtum: Dieser letzte Satz stammt nicht von Doderer und auch nicht von einem japanischen Zen-Meister. Er ist von einem österreichischen Zeitgenossen Doderers, dem Philosophen Ludwig Wittgenstein. Auch er hat uns neben dem berühmten
Tractatus
ein Tagebuch hinterlassen. Aber wenn man schon von dem Doderers zugeben mußte, es funkle nicht immer vor Spannung, so ist das Tagebuch des großen Logikers …
Von zwei Klassen zu sagen, sie seien identisch, sagt etwas. Von zwei Dingen dies zu sagen, sagt nichts.
Schon klar! Wenn Wittgenstein den «uralten Einwand gegen die Identität in der Mathematik» anführt:
Nämlich der, daß wenn 2×2 wirklich
gleich
4 wäre, daß dieser Satz dann nicht mehr sagen würde als a=a,
dann kommt man immerhin noch ins Mitgrübeln. Aber sonst?
Uff. Trocken? Staubtrocken? – Sahara. Bis es theologisch wird, dann tritt der Nil seiner Gedanken über die Ufer; aber dann ist es auch nicht mehr Logik oder Philosophie.
Ganz anders als Wittgenstein, eine ähnlich mythische Figur inzwischen wie Arno Schmidt und vielleicht minimal überschätzt – ganz anders in seiner fließenden und farbigen, von Gedanken wie von wendigen Fischschwärmen durchzuckten Prosa ist der Diarist Peter Sloterdijk.
Der Philosoph und Schriftsteller hat seit vierzig Jahren seine Gedanken und Betrachtungen in linierten DIN-A4-Heften festgehalten, ohne dabei an eine Publikation zu denken, zu der ihn Einflüsterer aus seinem Verlag und dem Marbacher Literaturarchiv schließlich doch überredeten. Ein schmales Segment, die Hefte, die den Zeitraum von 2008 bis 2011 umfassen, hat Sloterdijk stark redigiert unter dem Titel
Zeilen und Tage
veröffentlicht; bei einhellig freundlicher Aufnahme durch die Kritik. Ein Tagebuch im strengen Sinn ist die Sammlung nicht, die Originalhefte wurden um drei Viertel gekürzt, manche Passagen nachträglich erweitert und zugespitzt. Die Form ist somit eine weitere Hybridform; am ehesten erinnertsie ihren Verfasser an die
Cahiers
von Paul Valéry, wobei Sloterdijk die Einträge nicht thematisch sortiert.
Was uns hier vorliegt, ist im Gegenteil reizvoll unsortiert oder auch unfrisiert, um auf eine Szene vorauszudeuten, die Sloterdijk von seiner höchst angenehmen, selbstironischen Seite zeigt. Vergleicht man seine Notizen mit den Tagebüchern der Raddatz und Rühmkorf, fällt dann doch deren Solipsismus und Gedankendürre auf. Bei Sloterdijk finden sich auf jeder Seite Stellen, die man mit dem Bleistift markiert – ob zustimmend oder mit Fragezeichen oder mit kritischem Zickzack, ist dabei gar nicht entscheidend. Sloterdijk gelingt es immer wieder, zu verblüffen. Seine Feinde, von denen es nicht wenige gibt, würden erst die Vorsilbe streichen und dann die zwei Pünktchen über dem «ü».
Selbst diese Feinde müßten zugestehen, daß dieser Autor erstaunlich ist. So erstaunlich wie die Zahl der Vorträge, die er in der ganzen Welt hält, und der Bücher, die er neben der ordentlichen Professur verfaßt – einem seiner Gegner teilt er per
Zeit-
Artikel mit, er habe in bezug auf Sloterdijks Werk einen Lektüre-Rückstand von, «freundlich geschätzt, sechstausend bis achttausend Seiten» – so erstaunlich ist die Menge des Lesestoffs, den er verschlingt. Ein Vielleser, der beiläufig seine Perlen ausstreut – Kafka zitiert er einmal mit dem Satz, Karlsbad sei ein größerer Schwindel als Lourdes –, und ein Leser mit scharferUrteilskraft. Allein was Sloterdijk zum späten Goethe anmerkt, wollte schon immer einmal gesagt sein:
Durchgehend ist der Gebrauch des Adjektivs beim alten Prosa-Goethe harmoniesüchtig zwanghaft dem Guten und Positiven ergeben, wie von einem Daseinsdekorateur hingesetzt. Der Einsatz des Verbums ist zeremoniell überzogen. Den Gedanken
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