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Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Titel: Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Ideen.) Die würden die Erde umkreisen, «manche so hell, daß man sie bei Tag über den Himmel ziehen sieht».
    Man denke nur nicht, da sei jemand von der eigenen Bedeutung geblendet. Nein, Peter Sloterdijk, vertraut er einmal einem Fernsehmann und seinem Notizbuch an, hat einen ganz anderen Privatmythos:
    Ich lebe unter dem Auge eines großen Anderen, den ich mit nichts von allem, was ich tue, überzeugen kann.
    Wenn man einmal darauf aufmerksam geworden ist und bei den
Zeilen und Tagen
genauer zwischen jenen liest, wird man auf ein diskret angeschlagenes Thema stoßen, das gar nicht zu dem des Raketenbauers paßt.
    Der Blick in den Spiegel sagt dem Betrachter, unabhängig von Aufmachung und Tageszeit: Es mußte wohl jemanden geben, der so aussieht.
    Das ist kein Narzißt, der so etwas schreibt, das ist ein Mann, der keinen Anlaß zu haben glaubt, sich mit Adonis zu verwechseln. Und es ist ein Mann der Selbstironie. Von einem Vortrag in Paris erzählt er:
    Am Schluß unseres Auftritts in dem großen Hörsaal der Sciences Po ließ Bruno Latour Fragen aus demPublikum in einem Hut einsammeln, um auszulosen, welche beantwortet würden. Aus der Menge der zusammengefalteten Papiere griff er je eines heraus und las die Frage vor. Die dritte Frage lautete: Seit wann ist Ihr Friseur im Gefängnis? Ich hätte sagen sollen: Seit 1968, sieht man das nicht?
    Der Konjunktiv «hätte» beruhigt uns darüber, daß auch Hirntiere wie Sloterdijk nicht vor dem
esprit d’escalier
gefeit sind, dem die besten Pointen immer erst beim Verlassen des Hörsaals einfallen. Selbstironie – wie selten ist sie unter Sloterdijks Verächtern. Daß er einmal an der Rezeption eines überfüllten Hotels für den Busfahrer einer Reisegruppe gehalten wird – hätte uns das ein Habermas anvertraut? Aber dem wäre es wohl gar nicht erst passiert. Einmal promeniert Sloterdijk über eine Pferde-Messe. Dabei kommt er an einem Stand vorbei, der «Gebrauchte Hindernisse» verkauft. Sollte er jemals Memoiren schreiben, denkt er, würden sie so heißen.
    Auf seinem Weg waren viele Hindernisse, aber er hat es verstanden, sie zu nutzen; und das sogar, ohne dafür diskret fünf mal sechzig Dollar auszuschütten. Die Atmosphäre, die sein Buch ausstrahlt, ist die vollendeter Serenität. Der Autor dieser Notizen ist heiter, manchmal spöttisch, verbiestert nie. Es ist ein Zustand fast des Darüberstehens. Und genau in diesem Zustand kann es danneintreffen, das Wunder, das Herzenswunder, das uns nicht näher erläutert wird, an dem wir uns aber mit ihm freuen:
    Rausch, Flug, Glück – drei Jahre Nüchternheit gegen eine animierte Stunde. Herzweitwurf.
     
Experiment mit der Zeit
    Der erste moderne Schurkenstaat, Frankreich nach der Revolution, für die Sloterdijk so wenig Sympathien hat, zog auch viele deutsche Besucher an. Einer darunter war Wilhelm von Humboldt. Im April 1798 notiert Humboldt im Tagebuch seine jüngsten Eindrücke aus Paris. Im
Jardin des Plantes
habe er Buonaparte und dessen Frau Joséphine getroffen. Wie Humboldt weiß, ist sie in Martinique geboren. «Sie ist klein und ein hübscher feiner Wuchs, das Gesicht kann hübsch gewesen seyn, und verräth Verstand und feine Klugheit. Doch ists eins der Gesichter von Frauen aus der großen Welt und ziemlich abgenutzt. Der
teint
gelb. Sie mag über 40 Jahr alt seyn.»
    Humboldt hört dann von einer Weissagerin in Martinique. Sie habe einer anderen Kreolin prophezeit, sie werde einen Franzosen, und zwar einen Pariser, heiraten. Ihr aber, Joséphine, habe sie prophezeit, sie werde
reine de France.
So habe sie dort im Scherz auch überall geheißen. «Das erstere sey erfüllt worden», schließt Humboldt seinen Eintrag, denn die andere Kreolin ist inzwischen tatsächlich mit einem Pariser verheiratet.
    Was der Diarist nicht wissen konnte: Die zweite Prophezeiung traf sechs Jahre später ein, als Napoléon sich zum Kaiser krönen ließ. Joséphine wurde de facto
reine de France,
die Weissagerin hatte recht bekommen, und Humboldt überliefert es ahnungslos.
    Die Geschichte hätte einen Freidenker und Hobby-Philosophen neugierig gemacht, der eine ganz eigene Gattung des Tagebuchs erfunden hat: ein Logbuch nicht des Raumes, sondern der Zeit.
    Heute ist er vergessen, aber in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts war John W. Dunne der populäre Herausforderer Albert Einsteins. Bei seinen Auftritten füllte er ganze Hallen, seine Wirkung vor allem auf Schriftsteller war enorm. Seine 1927 veröffentlichte

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