Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
wußte, und schreibt schon auf der ersten Seite seiner Autobiographie
Speak, Memory,
er gestehe, er glaube nicht an die Zeit.
Umklammerte Russen und Babamüll
Von Arthur Schnitzler ist überliefert, daß auch er glaubte, später eintreffende Ereignisse vorherzuträumen und sogar prophetisch zu schreiben. In einem Traumgespräch mit seiner Gattin Olga bald nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs sagt er: «Du weißt ja – ich schreibe immer die Dinge vorher, die später geschehn.» Auch der Selbstmord seiner Tochter im Jahr 1928, über den Schnitzler nie mehr hinwegkam, war in seiner Novelle
Fräulein Else
vier Jahre zuvor gespenstisch vorweggenommen; was natürlich nur heißt, daß die Tochter das Werk ihres Vaters genau kannte und sich nur allzusehr zu Herzen nahm; wenn es nicht heißt, was ebenso wahrscheinlich ist, daß Schnitzler beim Gestalten seiner Else jene Todessehnsucht der Tochter schon vorm inneren Auge hatte.
Von dem Traumgespräch mit seiner Frau Olga wissen wir, weil es neben dem Tagebuch, das Schnitzler seit seinem siebzehnten Lebensjahr bis zwei Tage vor seinem Tode führte und das knapp achttausend Seiten umfaßt, ein
Träume
überschriebenes Konvolut von gut vierhundert Seiten gibt, das Schnitzler seiner Sekretärin diktiert hatte. Dunne hätte darin womöglich reiches Material gefunden.Er hätte es mit den späteren Tagebüchern abgleichen und auf Treffersuche gehen können.
Prognostisch oder nicht, Schnitzlers Traumtagebücher sind nicht weniger eindrucksvoll als seine eigentlichen Tagesnotizen und mindestens so aufschlußreich. Man trifft in ihnen ganz Wien – alle Großen seiner Epoche hatten mit Schnitzler verkehrt, und sie verkehren auch noch in seiner Traumwelt mit ihm. Stefan Zweig, Johann Strauß, Gustav Klimt, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal, Gustav Mahler, zu dessen ersten Anhängern Schnitzler zählte, sie alle spazieren durch seinen nächtlichen Salon. Auch Sigmund Freud spricht dort gelegentlich vor, der Mahler in dessen letztem Lebensjahr im niederländischen Leyden zu einer Kurztherapie empfangen hatte, von der Schnitzler ihm später versichern konnte, sie habe dem Komponisten tatsächlich geholfen und ihm das Leben erleichtert. Dieses Leben war Mahler nämlich durch Almas Ehebruch mit dem Architekten Walter Gropius – dem
arischen
Gropius, wie Alma gerne betonte – zur Hölle geworden.
Fast hätte auch Schnitzler sich bei Freud therapieren lassen, ging dann aber doch auf Distanz zu ihm. Die Ironie ist nicht zu überlesen, wenn er im August 1915 notiert: «Traum, dass die Russen vollkommen umklammert seien. (Freud würde zweifeln, dass ich die Russen gemeint habe.)»
Und Freud hätte Grund für seine Zweifel gehabt. Der Erotomane Schnitzler, der sich in den Fäden seiner vielenAffairen oft fast verhedderte, blieb auch im Traum nicht von jenem Dodererschen Räuberbuben verschont. Im Traum begehrt Schnitzler auch die nach vielen Zwischenstationen inzwischen mit Franz Werfel liierte Witwe des großen Komponisten. «Hatte lebhaft erotischen Traum von Alma», schreibt er im Dezember 1922, «sie hatte nur Bedenken wegen Werfel.»
Träume übertreiben. Solche Bedenken hätte Alma zwei Jahre später jedenfalls schon nicht mehr gehabt. Da schrieb sie in ihrem Tagebuch, Werfel sei ihr wieder zusammengeschrumpft zu dem «kleinen, häßlichen, verfetteten Juden des ersten Eindrucks».
Der nicht-arische Schnitzler träumt vier Jahre später, er sage zu Alma, die er sogar im Traum noch siezt: «Schade, dass ich Sie nicht früher kennengelernt habe – Sie waren die einzige Frau, für die ich ein Verbrechen hätte begehn können.» Alma fühlte sich geschmeichelt. Hätte Schnitzlers Verbrechen in einem Liebesmord bestanden, wäre die Welt um Almas Memoiren
Mein Leben
gekommen, die in ihrer hemmungslosen Selbstverklärung sogar das Journal Anaïs Nins in den Schatten stellen.
Für Almas ersten Mann ist Schnitzler im Traumtagebuch voller Bewunderung. Einmal fährt er drei Jahre nach Mahlers Tod im Traum mit ihm in einem Fiaker und fühlt sich, hochgewachsen, wie er war, «klein ihm gegenüber». Auch einen Schriftsteller gibt es, zu dem er insgeheimaufzublicken scheint. In der Neujahrsnacht 1908 träumt Schnitzler, sein verstorbener Vater mahne ihn, er habe in diesem Jahr doch sehr wenig geschrieben. Woraufhin der Sohn sich mit dem Hinweis wehrt, Thomas Mann habe «seit 99 Jahren» nichts mehr geschrieben. Pedantisch gesprochen, waren es nur sieben Jahre her, seit
Buddenbrooks
ihren
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