Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Problem allerdings: Im Tagesbewußtsein sind wir so stark darauf festgelegt, nur in die eine Zeitrichtung zublicken, daß es einer fast übermenschlichen Anstrengung bedarf, den Kopf geistig zu wenden und einen Traum rückblickend auf ein Ereignis zu beziehen, das erst zu einem späteren Zeitpunkt stattgefunden haben wird. Allein strenge Disziplin macht solche Untersuchungen möglich: ein Tagebuch, in dem der nächtliche Prophet nach dem Aufwachen alles festhält, was er geträumt hat, um es im Lichte der später eintreffenden Ereignisse auf Trefferquoten zu prüfen.
Dunne überredete seine Familie und seine Freunde, sich dieser geistigen Anstrengung zu unterziehen. Im Appendix seines Buches listet er auf 14 Seiten Beispiele für Träume verschiedener Versuchsteilnehmer auf, jedesmal mit einer Bewertung versehen. Das folgende Beispiel ist von einem
Subject E,
offenbar einer Studentin.
Der Traumbericht lautet: «Gehe in den College-Speisesaal und sehe dort meinen Bruder sitzen. Die Freundin M. R. H. sagt, er habe sich seit dem letzten Mal verändert.
Wacherlebnis:
Der Bruder der Probandin besucht sie im College und ißt mit ihr im Speisesaal. Die Freundin macht die Bemerkung wie im Traum.
Intervall:
Drei Wochen.
Wert:
Mäßig. Die Chancen, daß ihr Bruder sie in einem Zeitraum von drei Wochen im Collegebesuchen kommen wird, sind nicht sehr gering. Und daß ihre Freundin dann bemerken wird, daß er sich verändert habe, ist hoch wahrscheinlich – wenn er denn kommt.
Man sieht, wie sich der Versuchsleiter um nüchternste Abwägung bemüht. In der Hälfte der Fälle beurteilt er den Wert der Übereinstimmung mit
None.
Aber einige ragen dann doch heraus, wie er auch mathematisch ermitteln kann. Es ist immer noch
Subject E,
die hier träumt:
Der Traumbericht lautet: «Finde mich in einem kleinen Zimmer, das aussieht, als wäre es rasch für ein Treffen improvisiert worden. Ich sitze in der ersten Reihe auf einem niedrigen Stuhl. M. R. H. sitzt zu meiner linken auf einem höheren Stuhl. An der linken Wand des Raumes hängen Poster von Eisenbahnen. Ein Mann kommt herein und sagt … Er war auf Ferien in Chelsea. Meine Mutter gibt mir ein paar Teemesser, die ich polieren und wegräumen soll.
Wacherlebnis:
Die Probandin war bei einem Gespräch dabei, das sich hauptsächlich um Ferien drehte. Später im Gespräch erwähnte jemand «Chelsea». (Was sehr selten vorkommt, wie die Probandin angibt.) Während der Unterhaltungsaß sie zur rechten von M. R. H. und auf einem viel niedrigeren Stuhl als sie. Ein großes Bild in dem Raum wurde wiederholt als «Poster» bezeichnet. Kurz vor der Unterhaltung hatte M. R. H. […] von der Probandin zwei Teemesser geliehen. Später legt die Probandin diese benutzten Messer auf ein Tablett auf dem Tisch.
Intervall:
Ein Tag
Wert:
Gut. Es wäre reizvoll, hier eine Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten zu unternehmen. Zum Beispiel: Eine Teeparty im Zimmer einer Freundin, ½; zu rechten der Freundin sitzen, ½; Unterschied der Stühle, ½; Erwähnung eines «Posters», 1 / 100 ; Erwähnung von Ferien, 1 / 1 (angesichts der Tatsache, daß das Semester fast zu Ende war); Erwähnung von Chelsea (selten, nach Aussage der Probandin), 1 / 200 ; Teemesser aufräumen, ½ (entweder sie oder ihre Freundin hätte es getan). Ergebnis: ½ × ½ × ½ × 1 / 100 × 1 / 1 × 1 / 200 × ½ = 1 / 320.000 .
Und noch ein letztes Beispiel, bei dem man auf den Überschlag verzichten kann, diesmal von
Subject G (myself):
Der Traumbericht lautet: «Mein Schwiegervater erzählte mir, daß er einen Zukunftstraum gehabt habe.»
Wacherlebnis:
Mein Schwiegervater erzählte mir, daß er gerade den ersten Traum seines Lebens gehabt habe.
Intervall:
Eine Woche oder zehn Tage.
Wert:
Gut. Die Wahrscheinlichkeit errechnet sich aus der Tatsache, daß es der erste erinnerte Traum meines Schwiegervaters war.
Ein anderer Proband des kühlen John W. Dunne, der sich erst auf dem Sterbebett als Spiritist offenbarte, war der russisch-amerikanische Romancier Vladimir Nabokov. Er führte eine Zeitlang ein Traumtagebuch streng nach den Vorgaben des irischen Serialisten. Das hatte freilich eine lästige Nebenfolge. Die Tagebücher förderten die Schlaflosigkeit, zu der Nabokov ohnehin neigte. Wer sich geistig schon aufs morgendliche Protokoll der nächtlichen Ereignisse einrichtete und gewissermaßen schon auf dem Jägerstand saß, den floh der süße Schlaf. Nabokov ließ das Traumtagebuch wieder sein. Er wußte, was er
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