Heute bin ich blond
immer wieder, wo Samantha aus
Sex and the City
ihre tollen Haarkreationen her hat. Franken und Kok, die Wirte meiner früheren Stammkneipe, haben mir eine DVD -Box geschenkt. Zurzeit erscheint Samantha jeden Abend mit einem anderen Kopf auf meinem Bildschirm, einer schöner als der andere. Ich kann aus dieser ganzen Scheißsituation doch bestimmt noch Kapital schlagen und endlich mal eine üppige Mähne tragen. Ich will meinen Kopf nicht mehr unter einer Perücke verstecken, mit der ich mich kein bisschen als junge Frau fühle, oder unter einem Hut, mit dem ich jeden, den ich küssen möchte, vor den Kopf stoße.
Annabel sieht meinen kahlen Kopf heute zum ersten Mal. Ich habe Angst, dass sie mich kaum wiedererkennt, dass mein Anblick sie verschreckt.
Aber sie lächelt und streicht mehrmals über meinen rosigen Schädel. »Schön weich«, sagt sie. Kloß im Hals.
Verschiedene Frisuren werden mir über den Kopf gestülpt, und plötzlich ist Daisy da.
Wir sehen es sofort: Daisy ist keine Eintagsfliege. Im Spiegel betrachte ich das fremde Mädchen mit den dichten blonden, bis über die Schultern herabfallenden Locken. Herrlich, mit den Fingern durch diese langen Haare zu fahren, die ich bisher nur aus meinen Träumen kenne. Ein ganz anderes Gesicht, frech und verspielt. Annabel bindet sorgfältig ein rosa Band um Daisy und fährt dann fort, die Perücken zu mustern. Schließlich kommt sie mit einer verwegenen Frisur voller roter Strähnen an, die ich später Sue nenne.
Ich verlasse den Laden mit zwei neuen Perücken, zwei neuen Looks. Als Zwilling kann ich mich nicht entscheiden.
Allmählich finde ich Spaß an diesen Verwandlungen und gehe lieber in den Theaterladen als zu H&M. Ich gebe den Perücken Namen, denn mit jeder fühle ich mich anders. Wie eine andere Frau. Ich bin nicht Sophie, sondern Stella mit meinem steifen Muttchenkopf, Daisy als Barbie-Mädchen mit langen Locken, Sue mit frechen roten Locken und Blondie mit meinem blonden Bob. Blondie ist eine Echthaarperücke und damit die weitaus teuerste. Achthundert Euro. Absurd. Zus betrachtete mich und sprach die magischen Worte: »Ich sehe meine schöne Schwester im Spiegel wieder.«
Blond gibt den Ton an, denn blonde Mädchen werden bevorzugt. Sie ziehen mehr Blicke auf sich, werden öfter eingeladen und erreichen mehr bei ihren Mitmenschen. Bei den Männlichen jedenfalls, und davon gibt es ja ziemlich viele.
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Samstag, 26. März 2005
Perücken sind viel mehr als nur Haare. Sie machen etwas mit mir, nicht nur mit meinem Kopf, sondern auch mit meinem weiblichen Bewusstsein. Dass ich anders aussehe, bewirkt, dass ich mich anders fühle und dass ich andere Reaktionen hervorrufe. Stella, Sue, Daisy oder Blondie. Wenn ich Daisy aufsetze, ist alles anders. Die komplette Verwandlung. Lange Locken, die auf meinem Rücken tanzen. Meine italienischen Highheels werden plötzlich zu Hurentretern, meine engen Jeans zu Leggings und mein harmloses Dekolleté zu einem wahren Blickfang. Deswegen mag ich Daisy so gern. Die beste Wirkung erzielt Daisy nach einer kurzen Ruhepause oder wenn sie ihre Locken kokett tanzen lässt. Jeder will wissen, wer sich unter den blonden Elfenlocken verbirgt.
Als Daisy mag ich ganz andere Dinge, als wenn ich Sue, Stella oder Blondie bin. Ich stehe dann gern im Mittelpunkt. Ich schüttle meine Mähne, lache über jeden dummen Witz, trinke Milchshakes statt Tomatensaft und verwende rosa Lipgloss.
Desperate Housewifes
siegt dann über Vergil – vorgelesen von meinem Freund Jaap –, und meine Zehennägel müssen rot sein. Ich träume von romantischen Ausflügen mit Doktor K., aber das tue ich sowieso die ganze Zeit, trotz Perücke. Als Sue habe ich den meisten Frauen etwas voraus: wilde rote Haare. Damit aufzufallen ist leicht, auch ohne über dumme Witze lachen oder die Locken schütteln zu müssen.
Aber eins haben die vier Damen gemeinsam: Hinter allen verbirgt sich ein bisschen Sophie. Eine Sophie, die ihnen über die Schulter sieht und jede Schauspielerei mit Unbehagen registriert. Eine Sophie, die ihnen etwas abschaut und sich dadurch weiterentwickelt. Und eine Sophie, die merkt, dass sie sich verändert, indem sie beobachtet, wie Daisy, Blondie, Sue und Stella sich verhalten. Die merkt, dass Daisy, Blondie, Sue und Stella zusammen eine neue Sophie sind.
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Sonntag, 27. März 2005
Die Uhr zeigt halb sieben, draußen ist es schon dunkel. Nach einer langen Infusionswoche sitze ich in meinem
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