Heute bin ich blond
anders und nicht allein.
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Donnerstag, 19. Mai 2005
Wie sehr fühle ich mich von Lance verstanden. Und wie sehr verstehe ich ihn. So etwas schafft sofort eine Verbindung. Immer wenn ich mit dem Mountainbike durch die Stadt flitze, geht mir seine Geschichte durch den Kopf. Ich komme mir dann vor wie von ihm gesteuert. Unbesiegbar. Niemand würde vermuten, geschweige denn glauben, dass ich todkrank bin. Bis der Wind auffrischt und ich mit der rechten Hand sowohl meine Perücke als auch meinen Rock festhalten muss. Ein zirkusreifes Kunststück, das ich noch nie hingekriegt habe. Als ich Westeinde überquerte, sah ich Blondie schon fast in die Amstel fliegen. Schräg über den Dam ist auch nicht mehr sicher. Hätte ich mich als schüchternes kleines Mädchen nur mehr angestrengt.
Aber heute liege ich wieder schlapp und allein in meinem Krankenhausbett: Woche sechzehn hat begonnen, meine vierte Woche auf der C6. Wie schnell das alles geht, vor allem wenn ich daran denke, dass ich schon in etwas über zwei Monaten nie mehr klinisch stinken muss. Nie mehr, ein unheimliches Wort. Ich wage es nicht zu hoffen. Ende Juli sind die siebenundzwanzig Wochen vorbei, und ich muss nur noch zur ambulanten Behandlung hierher. Kommen und gehen am selben Tag.
Die Sonne scheint. Sogar im OLVG . Ich bin guter Dinge. Außer dem Buch von Lance Armstrong habe ich noch ein Buch von Primo Levi und eines von Heleen van Royen mitgenommen. »Als Kontrastprogramm«, lautet meine Erklärung auf die erstaunten Blicke meines Arztes hin. Als ich das Buch von Primo Levi aufschlage, fällt ein Blatt Papier mit einem Gedicht heraus. Es ist das Gedicht »Ithaka« von Konstantinos Kavafis. Auf der Rückseite ist ein Brief von Jaap, einem Studienfreund, den ich bei den Politologen kennengelernt habe.
Liebe Sophie,
Hier das Gedicht »Ithaka« von Konstantinos Kavafis.
Lies es, wenn du Angst hast oder düster gestimmt bist.
Ich weiß nicht, ob du dann wieder fröhlich wirst, aber das muss ja auch nicht sein.
Das Gedicht lehrt uns das Leben schätzen;
wie es war, wie es ist und was wir daraus machen.
Und wenn du es liest,
dann denk an das alte Griechenland,
das Land Homers und Sokrates’,
das Land, in dem Schicksalsergebenheit und Weisheit Hand in Hand gingen.
Denk vor allem an den Ursprung deines Namens,
die Sophisten waren ja die Ersten, die sich nicht in das Schicksal ergaben.
Sie versuchten zu verstehen, was man daraus machen muss.
Tu du das auch und denk dann daran, dass du wieder gesund werden musst!
Alles Liebe, Jaap
Warum gibt es hier keine französischen Betten? Dann könnte mir Jaap den ganzen Tag aus den Werken seiner Helden Vergil, Primo Levi, Spinoza und Rousseau vorlesen. Nicht dass ich von all den Philosophen viel gesünder würde, aber sie helfen, die Zeit zu vertreiben. Warum musste ich nur Doktor K. gegen Doktor L. eintauschen? Warum besteht mein Leben aus so viel Krankenhaus, dass ich selbst die Romantik bei meinen Ärzten suche?
An meine Infusion gefesselt, sehe ich ein Kommen und Gehen von Weißkitteln: Schwestern, Praktikanten, Stationsärzte und – ganz oben auf der Leiter – mein eigener Arzt. Von meinem Bett aus wirkt das Ganze wie eine Slapstickkomödie. Als Patientin kann ich ganz gut beobachten, wer der erfahrene Lebensretter ist und wer in seinen Lehrbüchern gefangen bleibt.
Und ich lausche den Gesprächen der Schwestern, bin im Bilde über alle Ereignisse und Intrigen, die oft nur in meinem Kopf stattfinden.
»Wie war dein Wochenende? Noch gearbeitet?«
»Ja, aber nicht auf Station. Ich musste im Paradiso auflegen.« Schwester Esther pflegt nicht nur Kranke, sie ist auch DJ ane.
»Ah. Und? Tolle Männer?«
»Erinnerst du dich an Gerard? Der letztes Jahr mit einem Seminom hier lag« – Krebs in den Eiern –, »der hat da vor meiner Nase getanzt. Total schön.«
»Echt? Toll.«
Wunderbar. Ich nächste Woche auch wieder. Aber erst zu Doktor K., der mich gerade im Dunkeln – ich hatte die Augen geschlossen – zu einer heftigen Vögelei entführt hat: reiner Überlebenstrieb.
Ich phantasiere nicht nur für mich, sondern auch für meine Besucher. Weggerufen von ihrer wohlverdienten Pause in der Sonne, stehen sie getreulich an meinem Bett. »Na, schön draußen?« Oder wenn es regnet: »Regnet’s?« In meinem fröhlichsten Tonfall.
Es ist doch blöd, wenn ich nichts zum Gespräch beizutragen habe. Ich kenne das von den wenigen Besuchen bei meiner Tante, die viel Zeit ihres Lebens im
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