Heute bin ich blond
Stap.«
Ich schaue auf, direkt in Doktor K.s Augen.
Wach auf, Traumtänzerin! Vorgebeugt, die Hände gefaltet, sieht er mich an und zwinkert mit seinen blauen Augen. Ich erröte, eine Hitzewelle rast meinen Rücken hinauf, und hinterlässt eine Spur aus Schweißtropfen. Jetzt könnte ich Ritas Tabletten gebrauchen.
»Kann ich etwas für dich tun?«, fragt er.
Oje.
»Zeit für einen kleinen Lungentest?«
Schön zu Besuch bei Doktor K. und zwischendurch ein bisschen pusten und ächzen. Ich stelle mir vor, wie sein Leben außerhalb seiner Arbeitszeiten aussieht. Wie jeder andere – und wegen der ethischen Aspekte seines Berufs vielleicht noch mehr als jeder andere – nimmt er wahrscheinlich keine geringe Last mit nach Hause. Vielleicht grübelt er auf dem Nachhauseweg die meisten Gedanken schon weg, aber einige nimmt er bestimmt mit ins Bett. Die Vorstellung, dass er möglicherweise auch mich mit ins Bett nimmt, ist gelinde gesagt, ungeheuer erregend. Aber was denkt er dabei? Übermannt ihn das Mitleid, und er denkt an Ungerechtigkeit? Oder verlangt es ihn nach diesen schalkhaften braunen Augen, die ihn so nachdenklich ansehen?
O Pam, was bist du wieder am Flirten. Potenzielle Kandidaten, hinter ihren weißen Kitteln versteckt. In den ersten Wochen habe ich mir noch eingebildet, ich wollte von der Mehrzahl der Männer, die in einem weißen Kittel herumlaufen, untersucht werden. Damals hat mich der weiße Kittel noch tief beeindruckt. Jetzt, gut sechs Monate später, schaue ich durch den Kittel hindurch. Als Erstes prüfe ich das Verhältnis von Schuhen und Länge der Hosenbeine. Sobald auch nur ein Zentimeter Socke zu sehen ist, wandert mein Blick weiter, zum nächsten weißen Kittel.
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Montag, 10. Oktober 2005
Heute Morgen habe ich die Geschichte von Oskar zu Ende gelesen. Oskar ist zehn Jahre alt und wohnt in der Kinderstation eines Krankenhauses. Er hat Leukämie. Sein ganzes Leben spielt sich innerhalb der Krankenhausmauern ab, wo er wie die anderen Kinder jeden Abend einschläft und jeden Morgen wieder aufwacht. Wie ich hat auch Oskar eine Lieblingsschwester: Oma Rosa. Sie rät Oskar, sich mit seinen Fragen an Gott zu wenden. In seinen Briefen an Gott findet er einen neuen Freund, ohne zu merken, dass er im Laufe der Zeit alle seine Fragen selbst beantwortet.
Oskar hat auf der Station mehrere Freunde. Seine besten Kumpels sind Einstein und Popcorn. Von Einstein erzählt er, dass er nicht so genannt wird, weil er intelligenter ist als die anderen Kinder, sondern weil sein Kopf doppelt so groß ist. Popcorn verdankt seinen Spitznamen seinem Übergewicht. Das einzige Kleidungsstück, in das er hineinpasst, ist ein gestreiftes amerikanisches Baseballshirt. Die Streifen sind seekrank, sagt Oskar.
Auch die Mädchen, die auf der Station herumlaufen, beeindrucken Oskar: Sandrine und Peggy Blue. Sandrine hat ebenfalls Leukämie und trägt eine Perücke, mit der sie wie eine Chinesin aussieht, Peggy Blue hat aufgrund von Sauerstoffmangel eine bläuliche Hautfarbe.
Oma Rosa sitzt jeden Tag lange Zeit an Oskars Bett. Sie unterhält ihn mit schönen Geschichten und Erinnerungen an ihre Karriere als Catcherin und redet so zwanglos über den Tod und Oskars Krankheit wie über das Leben und das Älterwerden. Sie lehrt ihn, seinen unausweichlichen Tod als Teil seines Lebens zu begreifen, und erinnert ihn daran, dass auch sie eines Tages sterben wird, so wie er in zwölf Tagen. Denn so viel geben ihm die Ärzte noch: zwölf Tage. Sie bittet ihn, jeden Tag so zu betrachten, als wären es zehn Jahre. Und so wird Oskar vom zehnjährigen Jungen zum hundertjährigen alten Mann, einem Mann, der Frieden schließt mit dem Gedanken, nie mehr aufzuwachen.
Ich bezweifle nicht, dass Oskar wirklich gelebt hat, dass er so früh gestorben ist und seine Geschichte hinterlassen hat. Seinen Lieben, seinen Freunden auf der Station, mir und vielen anderen kleinen Oskars – kleine Menschen, einer wie der andere, aber große Helden. Ich habe meinen Helden gefunden.
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Donnerstag, 20. Oktober 2006
Ich klimpere mit den Wimpern, und meine Wimpern streifen über den Kissenbezug. Alles wächst wieder: Wimpern, Augenbrauen, der erste Flaum auf meinem Schädel und der Rest leider auch. Ich stehe auf und krame in meiner Toilettentasche nach der Wimperntusche.
Auf das Frühstück habe ich keinen Appetit, das scheint normal zu sein bei Krebspatienten. Blöd.
Trotz unserer Bedenken sind Rob und ich ein paar Tage verreist.
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