Heute bin ich blond
Tages auch mein Schicksal wird, dann werden meine Gedanken bei ihm sein. Bei ihm und Oskar, der mit seinen zehn Jahren auch viel zu früh gestorben ist. Zusammen sind wir dann vielleicht die drei Musketiere. Ich muss lächeln. Oskar, der alle Schwestern überlistet hat, Marco, der schneller war als alle, die er zurückgelassen hat, und ich, eine kleine Nikita mit allen meinen Perücken. Denn die kommen natürlich mit.
Außerdem werde ich morgen in die Dorfkirche gehen. Vorher hole ich auf dem Markt Gemüse und kaufe eine Muschelkette bei einer Afrikanerin, deren knallrosa Kleid ihre dunkle Haut und die weißen Zähne noch mehr leuchten lässt.
Muscheln. Frankreich, Wijk aan Zee, Nerja.
Ich werde eine Kerze anzünden für Marco, Oskar, Salvatore und Adèle. Und für meine Mama, meinen Papa und meine Schwester, denen in den vergangenen Jahren immer noch mehr aufgebürdet worden ist. Ich werde eine leere Kirche vorfinden, in der ich mich nicht geniere, flüsternd mit Marco zu sprechen. Ich werde mich in die erste Bank setzen, mit feuchten Augen, was mich überraschen wird, aber ich bin zurzeit eben sehr dünnhäutig und emotional. Während ich die Kirche verlasse, werde ich mir die Augen trocken wischen.
[home]
Freitag, 18. November 2005
Manchmal vergesse ich, dass ich immer noch Sophie bin. In einem ganz anderen Körper zwar, mit Krebs, aber immer noch Sophie. Und Sophie hat manchmal Liebeskummer. Seit vier Tagen habe ich Rob nicht mehr gesprochen oder gesehen. Er hat eine andere kennengelernt, mit der er vielleicht sehr glücklich und verliebt ist. Verdammt.
Ich sitze in der onkologischen Ambulanz. Dem Ort von Leben und Sterben. Das rückt Rob einen Moment lang in den Hintergrund. Krank werden, relativieren. Es trägt die ersten Früchte.
Ich sehe sechs grüne Flugzeugsessel, im siebten sitze ich selbst. Als ich ankam, waren alle besetzt, jetzt sind drei frei. Die Schwester hier heißt Judith. Judith ist immer da, das ist der Vorteil, den sie vor den anderen Schwestern und Brüdern hat. Sie ist schnell, gut, in dem was sie tut, und humorvoll. Und sie hat ein Glas mit Löffelbiskuits auf ihrem Schreibtisch stehen.
Mein Arzt schaut auch immer vorbei. Er kommt nur dann, wenn seine Patienten Beschwerden oder lästige Fragen haben. Letzteres ist bei mir eher die Regel als die Ausnahme, und deshalb zählt er für mich zu den Hauptpersonen dieses Films, der alle drei Wochen am Freitagnachmittag im OLVG gedreht wird. Nicht dass Judith weniger Präsenz hätte als er, aber er ist eben der Arzt. Der Häuptling sozusagen. Wird er sich an mich erinnern, wenn ich nicht mehr so regelmäßig wie in diesen Monaten sein Zimmer betrete? Wird er manchmal an mich zurückdenken? Wird es ihm leid tun, wenn seine Wissenschaft bei mir nicht triumphiert? Wird er sich dann meinen Sarg ansehen? Wird er sich fragen, was aus mir geworden ist? Wird er auch meinen Kugelschreiber auf seinem Schreibtisch lassen?
[home]
Mittwoch, 23. November 2005
»Bist du verliebt?« Ängstlich und gespannt sehe ich Rob an und bereite mich auf den Schlag vor.
»Ja.«
Und da sitze ich, mit offenem Mund.
Da liege ich, schluchzend auf dem Boden.
Da krieche ich, vor Schreck unter das Baugerüst neben uns.
Es ist ein total unwirklicher Moment. Aber auch ein sehr wirklicher. Wie damals. Aber dann müsste ich das jetzt weniger schlimm finden, schließlich geht es um Liebe und Freunde, wovon es viel mehr gibt, und nicht um Leben und Tod.
Rob schaut geradeaus und hält mir zuliebe die Tränen zurück. Er versucht, Kontakt aufzunehmen, er berührt mich, nimmt meine Hand, streichelt meine Wange.
Ich stoße ihn weg, was für ein Theater. Leider ist es Realität. Verdammt, das tut so weh. Ich will die Berührung, will seine Hände, seine Arme, aber ich kann nicht. Er soll verschwinden, schreie ich, aus meinem Leben verschwinden, und den Schmerz soll er mitnehmen, ich will ihn nie mehr wiedersehen. Und das glaube ich in diesem Moment auch wirklich.
Ich schmiege mich eng an Annabel. Meine Wochenendtasche aus rosa Leder steht neben ihrem Bett, die Katzen Billy und Mimi lassen sich irgendwo zwischen uns nieder. So viel Wärme, aber ich spüre nur Leere.
[home]
Donnerstag, 24. November 2005
Ich sitze im Morgenrock bei Annabel, neben der ich heute früh aufgewacht bin, auf der Fensterbank. Ich schaue hinaus und fühle mich rundum Scheiße. Scheiße, weil ich heute Nacht bei Annabel gelegen habe und nicht bei Rob, der bei einem Paar ellenlanger Beine liegt.
Weitere Kostenlose Bücher