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Heute bin ich blond

Heute bin ich blond

Titel: Heute bin ich blond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie van der Stap
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Schicksalsgenossen mir auf meinem Weg begegnen, desto öfter denke ich an die, die es schaffen, und an die, die uns zurücklassen. Ich werde doch nicht an dieser Krankheit sterben? Mein Ex wird doch nicht nur eine, sondern zwei Ex-Freundinnen durch Krebs verlieren? Oder meine Freundin – sie wird doch nicht zwei liebe Freundinnen in so jungen Jahren verlieren? Ich sehe mich an und frage mich, wie groß die Wahrscheinlichkeit wirklich ist, dass ich die eine Person bin, die mit einem seltenen Tumor im Leib herumläuft. Es ist kein starkes Argument, aber weil ich ich bin, ist es für mich ein besonders gut fundiertes Argument. Da kommen die Statistiken nicht dagegen an.
     
    Ich schiebe Lydias lange braune Haare zur Seite, damit sie nicht in meinen Fisch- und Gemüseteller hängen. Bebé hat mir heute eine Perücke geschenkt, die sie noch aus der Zeit hat, als sie selbst gern Perücken trug. Wir essen im Restaurant in Orgiva, dem nächsten Dorf, und unterhalten uns über Ärzte, Wissenschaft und meine Gewebeprobe, die von mehreren Pathologen jeweils einen anderen Namen bekommen hat.
    »Wie wir das Tierchen nennen, interessiert mich weniger, Hauptsache, wir können es behandeln.« Soweit Doktor L.s erste Reaktion auf die unterschiedlichen Aussagen, die er zu meiner Gewebeprobe bekommen hat. Da meine Krankheit in meinem Alter eigentlich nicht vorkommt und meine Probe in mehrerlei Hinsicht von meiner früheren Diagnose abweicht, gehöre ich zur Gruppe der sogenannten Sarkome unklarer Herkunft. Auch »Nicht-Rhabdomyosarkom-artige Tumoren« genannt.
    Otto meint, dass bei mir möglicherweise eine Fehldiagnose vorliegt. Und dass diese Fehldiagnose mir möglicherweise das Leben retten wird. Dass ich möglicherweise »überbehandelt« werde, aber genauso gut hätte »unterbehandelt« werden können. Dass ich in diesem Fall jetzt mausetot wäre. Dass noch sehr viele unbekannte Faktoren in meiner Suppe schwimmen, und dass die Grauzone zwischen gut- und bösartig schon sehr grau ist. Ein spannendes Gespräch. Es ist schön, mit Ärzten zu reden.

[home]
    Mittwoch, 9. November 2005
    Während ich mich erhole und mir alle Mühe gebe, Oskar vorerst nicht nachzufolgen, muss ich dauernd an Marco denken, der vor einem Jahr gestorben ist. Auch heute Abend, wenn ich schlafen gehe, werde ich an ihn denken. Vor genau einem Jahr ist auch er schlafen gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht. Das war am 10. November 2004; seine Eltern saßen an seinem Bett in der kinderonkologischen Abteilung des VU -Ziekenhuis in Amsterdam. Marco ist siebzehneinhalb Jahre alt geworden. Nicht alt genug, um seinen großen Traum, ohne Einschränkung Auto zu fahren, zu verwirklichen, aber alt genug, um ab und zu auf der Rennstrecke fahren zu dürfen.
    Ich werde meine letzten Tropfen einnehmen – zur Unterstützung der Nebenniere, die ebenso wie die Leber durch die Bestrahlung etwas abbekommen hat – und Vitamin C schlucken gegen die Blasenentzündung, die im Anzug ist. Ich werde die Deckenlampe aus- und die Nachttischlampe, die genügend Licht zum Lesen oder Schreiben gibt, einschalten. Ich werde zu meinem Buch greifen, einem Buch, bei dem ich immer noch im Zweifel bin, ob es mich so fesselt, dass ich die letzten hundert Seiten noch lesen will, und ich werde mich unter der Decke zusammenrollen, damit mir in diesen ersten Minuten möglichst schnell warm wird. Ich werde an meine Eltern denken, die heute sechsundzwanzig Jahre verheiratet sind. Dann werde ich mein Buch aufschlagen, und plötzlich werden meine Gedanken zu Marco wandern, der wie ich und so viele andere in viel zu jungen Jahren mit dieser Krankheit konfrontiert wurde. Mit dem großen Unterschied, dass Marco es nicht geschafft hat und ich noch da bin. Sein Tod und mein Leben trennen uns, aber durch seinen Tod und mein Leben fühle ich mich zugleich eng mit ihm verbunden. Denn wenn ich Angst habe, denke ich an Oskar und Marco. Bei ihnen fühle ich mich geborgen, denn sie sind dort, wo ich vielleicht schon bald hingehen werde.
    Ich habe Marco nicht gekannt, aber ich kenne seine Eltern, Salvatore und Adèle. Es erscheint irgendwie dreist, über ihn zu schreiben, ohne dass er mich je zu Gesicht bekommen hat. Aber noch dreister scheint es, nicht über ihn zu schreiben, ihn einfach zu »lassen«, weil er eben nicht mehr da ist. Doch für mich ist er noch da. Ich habe sein Foto in meinem Portemonnaie. Damit ist er Teil meines Lebens, und damit lebt er für mich. Und wenn sein Schicksal eines

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