Heute bin ich blond
machen.
Wieder schlurfen zwei alte Leute vorbei. Ein Ehepaar diesmal, das sich gegenseitig stützt. Auch sie sehen zu mir her und nicken mir zu. Meine langen blonden Haare werden in der Kirche vielleicht eher mit denen eines Engels assoziiert als mit denen eines Flittchens. Auf den Ramblas ist das ganz anders. Ich nicke zurück und lausche ihren Schritten noch eine Weile nach, bis es wieder still ist. Die heutige Vorstellung ist für mich vorbei. Ich stehe auf und gehe zum Ausgang, weg von den brennenden Kerzen. Weg von der Wärme meines Freundes. Weg von der ersten Reihe. Ich schaue noch einmal zurück in diesen Raum voller Gedanken und Gebete, dann verschwinde ich durch die imposanten Türen nach draußen.
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Freitag, 16. Dezember 2005
Ich gehe in die Ecke rechts hinten und wähle die beiden größten Kerzen aus, die ich finden kann. Dann suche ich einen freien Platz. Das ist irgendwie würdiger als ein Tablett voll mit den Wünschen anderer. Und in dieser Kirche geht das. Zwei Heilige wachen über meine Kerzen – ich weiß zwar nicht welche, aber sie sehen sehr fromm und freundlich aus. Zwei Kerzen: eine für Chantal und eine für Aniek. Ich zünde sie an und staune über die Länge der Seile, an denen die Kronleuchter hängen; sie lassen den Raum noch größer erscheinen. Noch nie habe ich in einer Kirche eine Kerze angezündet und sie dann über drei Tage langsam herunterbrennen sehen. Diese Kirche hat etwas Besonderes. Hunderte von Lichtern in dem sonst leeren Raum. Ein Karneval flackernder roter Kerzen. Die Deckengewölbe sind ungeheuer hoch, die Steinfliesen kahl und grau, die Betstühle leer. Kaum Prunk und Pomp, und doch eine prächtige Kirche.
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Samstag, 17. Dezember 2005
Heute sind sie heruntergebrannt.
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Mittwoch, 21. Dezember 2005
Ich bin wieder in Amsterdam und habe mich mit Chantal in der Chocolate Bar verabredet, neben ihrer Stammkneipe, dem Pilsvogel. Komisch, später in dem Buch von Kluun zu lesen, dass der Pilsvogel auch in seinem Leben eine große Rolle spielt. Es ist noch ruhig, wir sitzen an einem der drei Tische, die mit gläsernen Aschenbechern und brennenden Kerzen gedeckt sind.
Entspannt zündet Chantal sich ihre zweite Zigarette an. Sie lacht vergnügt und nimmt noch einen Schluck von ihrem Weißwein. Eine Siegerin sitzt vor mir. Und eine Genießerin. Eine Frau, wie man ihr selten begegnet. Eine Frau, die den Mut hatte, ihrer größten Angst ins Auge zu schauen. Und wie fröhlich sie ist. Wie schön sie ist.
Sie hat mich zum Lachen gebracht, ich musste schlucken, ich habe aufmerksam zugehört, habe meine Tränen kommen lassen und sie verborgen.
In all diesen Momenten hatte ich eine Gänsehaut, und der Gedanke an einen leeren Stuhl vor mir ließ mich nicht mehr los. Unheilbar krank. Genießen. Unheilbar krank. Witze machen. Unheilbar krank. Flirten. Unheilbar krank. Schuhe kaufen. Ja, das war das Erste, was sie getan hat, und dann hat sie sich gefragt, ob sie noch lange genug leben würde, um die neuen Sohlen durchzulaufen. Gänsehaut. Ich will sie ganz fest umarmen. Nicht aus Mitleid oder Sympathie, sondern um ihre Kraft einen Moment lang festzuhalten.
Plötzlich habe ich Lust zu schimpfen. Auf ihren und meinen Krebs zu schimpfen. Auf die Idioten zu schimpfen, die vor ihrer Krankheit davonlaufen und damit nicht nur ihre Krankheit heruntermachen, sondern auch Chantal selbst. Auf die Blödmänner zu schimpfen, die mich wegen eines jungen Körpers ohne Tumoren, Chemobeutel und Perücken sitzen lassen. Auf ein Handgelenk ohne gelbes Armband.
»Das wirkt nicht«, scherzt sie, als ihres zum Vorschein kommt.
Angst hat sie vor der Vergangenheit. Davor, dass ihre Freunde in der Vergangenheit von ihr sprechen. Davor, dass ihre Freunde ohne sie alt und grau werden. Ohne Zeit existieren wir nicht, aber mit der Zeit lebe ich lieber auch nicht. Deshalb vor allem heute und so wenig wie möglich morgen.
Ob ich auch unheilbar krank sei, will ihre Freundin wissen, die sich zu uns gesetzt hat. Die Chocolate Bar ist inzwischen rappelvoll.
Ich schüttle unbehaglich den Kopf.
Meine Siegerin scherzt, sie werde noch lange nicht ins Gras beißen. Wieder stehen mir meine langen blonden Haare zu Berge. Ich lächle, ein gekünsteltes und zugleich aufrichtiges Lächeln, und frage mich, wie ich Farbe in ihre depressiven Sonntage bringen kann. Und was sie dazu beitragen kann, dass meine Scheißtage weniger Scheiße sind. Vielleicht können wir gemeinsam schimpfen. Oder gemeinsam
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