Heute morgen und fuer immer - Roman
mal die Pumpe halten dürfte, hatten was von Katastrophentourismus und wirkten eher befremdlich, denn für uns war das hier ein Problem, das sich zu einer existenziellen Misere ausweiten konnte. Zwar pumpte ich Geld nach, aber auch meine Mittel waren begrenzt. Jasper merkte mir an, dass ich das alles ganz und gar nicht witzig fand, und nahm mich in den Arm. »Hey, ich bin doch auch noch da und kann euch unter die Arme greifen!«
Das war wirklich lieb gemeint, aber keine dauerhafte Lösung, denn das Waldhaus konnte ja kein Zuschussgeschäft bleiben, sondern musste sich rentieren, außerdem wäre Omi viel zu stolz, fremdes Geld anzunehmen. Wir gingen in den Wohnbereich des Waldhauses an den prasselnden Kamin, der bereits weihnachtlich geschmückt war. Über dem Kamin hingen rote Strümpfe, und ein großer Weihnachtsbaum stand in der Mitte des Raumes. Vor dem Regal stand der schwarze Steinwayflügel, den Opa von seinen Eltern geerbt hatte und an dem ich meine ersten Klavierversuche unternommen hatte. Von Anfang an übte dieses Instrument eine Faszination auf mich aus. Kaum konnte ich laufen, setzte ich mich an die schwarz-weißen Tasten, die so schöne Töne erzeugten. Einer der Stammgäste, ein Musiklehrer namens Weber, brachte mir die Noten bei und zeigte mir, wie man die Hände halten musste. Er war überrascht, wie schnell ich lernte, alles in mich aufsog und überhaupt nicht müde wurde zu üben. Noch überraschter war er, als er nach einigen Monaten wiederkam und ich ihm vorspielte, was ich mir alles selbst beigebracht hatte. Eindringlich sprach er mit Mama und Papa, dass ich eine Gabe, ein Talent besäße, das es nicht oft gab, und sie mich unbedingt Klavierstunden nehmen lassen müssten. Bei uns hatte niemand zuvor je eine musikalische Begabung gezeigt. Opa spielte ein wenig Klavier, Omi sang gerne, aber das war es dann auch. Da sie aber merkten, wie besessen ich von diesem Instrument war, und sie mich meinen Fähigkeiten entsprechend fördern wollten, meldeten sie mich bei der Jugendmusikschule an, bei der ich allerdings nicht lange blieb, denn kaum war ich in professionellen Händen, wurde ich gefördert und weitergereicht zu den besten Lehrern und Professoren.
»Und es macht dir wirklich nichts aus, so lange zu üben? Willst du nicht mal raus, es ist so schönes Wetter heute?«, fragte Mama jedes Mal erstaunt und auch ein wenig besorgt, denn eine normale Kindheit und Teeniezeit sah anders aus. Stattdessen musste ich viel üben, reisen, und das alles neben der Schule. Während andere shoppen gingen und mit ihrer Clique abhingen, war ich unterwegs mit einem Jugendorchester oder trat bei Wettbewerben an. Zum Glück war ich in der Schule trotz allem keine Außenseiterin, sondern beliebt, nur leider eben nie dabei, was irgendwann dazu führte, dass ich nicht mehr gefragt wurde, wenn Unternehmungen anstanden, weil ich sowieso nie Zeit hatte. Meine Freundschaften entwickelten sich in der Musikszene. Da Amelie ja nicht meine beste Freundin werden wollte, freundete ich mich mit Eva, einer Geigerin, an, und unsere Freundschaft hielt bis heute.
»Was für ein Unglück! Furchtbar, so furchtbar, und das ausgerechnet vor Weihnachten!«
An der Rezeption stand Susanne Seliger, die treue Seele aus der Buchhaltung, und murmelte kopfschüttelnd vor sich hin. Als ich sie ansprach, zuckte sie erschrocken zusammen. Frau Seliger war wohl das, was man eine graue Maus nannte. Sie trug die Art Kleider, über die man sich freute, wenn man eine Einladung zu einer Bad-Taste-Party bekam und im Secondhandshop oder auf dem Dachboden fündig wurde. Ja, auch eine unvorteilhafte Plastikgestellbrille zur Frisur - man musste es wohl Frisur nennen, was sie auf dem Kopf trug - verdeckte ihr Gesicht. Jedes Mal, wenn ich sie sah, musste ich an diese Vorher-nachher-Shows denken, die Frau Seliger mit Kusshand casten würden. Es gab kaum eine Frau, die einen unpassenderen Namen trug als sie. Sie huschte seit Jahren mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf über die Gänge, kümmerte sich beflissen um alles in der Buchhaltung und war eigentlich immer da. Nicht zum ersten Mal erschrak ich darüber, wie jung sie eigentlich war. Ich würde sie dem Anschein nach auf Ende fünfzig schätzen, tatsächlich war ihr wahres Alter Anfang vierzig, was man aber erst bei näherem Hinschauen bemerkte. Ihr Gesicht war durchaus niedlich, und sie strahlte etwas Zerbrechliches aus, sodass sie selbst bei mir Beschützerinstinkte weckte. Man wollte sie am liebsten
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