Heute morgen und fuer immer - Roman
Gedanken zu vertreiben ... erstmals zumindest.
»Wie seh ich aus?«, fragte ich Helene zum hundertsten Mal, die gewohnt und gekonnt beruhigend »Bezaubernd, wirklich bezaubernd!« antwortete. Es war wieder einmal so weit. Gleich musste ich auf die Bühne, meine Nerven lagen blank, und ich terrorisierte meine Umgebung - natürlich ungewollt. Wenigstens waren meine Augenbrauen nicht mehr schwarz. Mein Blick fiel in den Spiegel, und mit dem, was ich sah, war ich mehr als zufrieden. Ich trug ein bodenlanges grünes Kleid, das oben nur mit einer Korsage gehalten wurde. Meine roten Locken bedeckten die freien Schultern, und passend dazu funkelten die langen Chandelierohrringe aus Bernstein. Alles in allem eine elegante, aber gleichzeitig aufregende Kombi, und die Rot-Grün-Komponente passte auch farblich gut zum Weihnachtsthema. Helene zog mich zur Seite und sah mich besorgt an: »Was macht deine Hand? Spürst du was?«
Ich schüttelte den Kopf. In den letzten Tagen hatte ich keine Probleme mehr gehabt - zumindest nicht bei den Proben. Nachts war ich ein paar Mal aufgewacht, weil sich meine Finger taub anfühlten, so als wäre die linke Hand eingeschlafen.
»Du musst nur das Konzert überstehen, und übermorgen hast du ja endlich den Termin!«, tätschelte Helene aufmunternd meine Hand. Wie froh war ich, mich Helene anvertraut zu haben, geteiltes Leid war wirklich halbes Leid, und wenn ich erst mal den Termin bei ihr im Krankenhaus wahrgenommen hatte, würden wir weitersehen. War gar nicht so leicht gewesen, einen Termin bei Chefarzt Weber zu bekommen, und dank Helenes Beziehungen musste ich nicht mal weitere Wochen warten.
»Da unten kommt gerade Jasper an, gefolgt von seinem Clan!«
Helene spähte durch den dunkelblauen Samtvorhang in den Saal und rief mich leise herbei. Ja, da trudelten sie ein, Jasper, Ulrike, Georg mit Nele, und setzten sich direkt neben Omi und Maxi auf die für sie reservierten Plätze. Von Valentin keine Spur!
»Wo ist denn Valentin? Auf ihn habe ich mich doch am meisten gefreut!«, bemerkte Helene enttäuscht. Mich konnte seine Abwesenheit nicht überraschen. Zwar hatte er zugesagt, und unser Verhältnis war seit dem Zusammentreffen beim Skifahren entspannter, aber leider nicht so nachhaltig verändert wie erhofft. Unser Verhältnis entsprach einer Achterbahn. Mal war er distanziert und nicht durchschaubar, dann wieder ließ er die Scheuklappen herunter und zeigte sich eine Weile lang nahbar und menschlich. Die einzige konstante Veränderung, die ich wahrnehmen konnte, war die, dass er mich öfter anschaute und beobachtete, was aber so wirkte, als ob er versuchte, aus mir schlau zu werden oder zu überlegen, ob ich wirklich zu Jasper passte. Nach wie vor gab er Kommentare von sich, die oft spöttisch bis abfällig klangen, auf die ich aber inzwischen geübt und schlagfertig antworten konnte. Gegenüber seiner Familie und vor allem Nele war er jedoch fürsorglich und oftmals richtig entzückend. Deshalb hatte ich beschlossen, sein launiges Verhalten mir gegenüber möglichst zu ignorieren. Und solange wir uns nicht offen anfeindeten, würde es mir auch sicher gelingen.
Jasper hielt Nele an der Hand, die sich mit roten Wangen aufgeregt alles ansah. Sie war zum ersten Mal in einem Konzert und freute sich sehr, mich spielen zu sehen.
»Äh, die Damen, wie alt seid ihr? Fünfzehn? Geht ihr bitte vom Vorhang weg!«, forderte uns Gustav, der Dirigent, freundlich, aber bestimmt auf. Helene entschuldigte sich brav: »Ich wollte Clara nur ablenken. Sie kennen doch bestimmt ihr ausgeprägtes Lampenfieber!«
Gustav lächelte milde und sprach mir aufmunternd zu, was nichts half, sondern nur das Gegenteil bewirkte. Jedes Mal starb ich fast vor einem Auftritt, malte mir aus, dass ich plötzlich einen Blackout vor dem Publikum hatte und nicht mehr weiterspielen konnte oder mir vor all den Leuten irgendetwas höchst Peinliches passierte. Vor meinem ersten Konzert vor fünfzehn Jahren plagte mich wochenlang derselbe wiederkehrende Traum: Ich ging im Traum zum Flügel, das Publikum wurde ruhig, und mitten in die Stille hinein ließ ich beim Hinsetzen einen langen, lauten Pups! Eine andere Variante desselben Traums war, dass ich das Konzert fehlerfrei spielte, mich beschwingt und befreit verbeugte und mir beim Verbeugen ein Pups entfleuchte. Inzwischen wusste ich, dass mir das vor lauter Verkrampfung niemals passieren würde, wahrscheinlicher war ein Blackout. Dieses Mal schwang eine neue Angst mit, die
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