Heute schon geträumt
Ruby und Sam allein lassen. Das bringt ihn um. Okay, vielleicht für zehn Minuten.« Sie lächelt schwach. »Vorn an der Ecke ist ein Supermarkt. Ich kaufe eine Flasche Wein, und dann gehen wir wieder nach Hause.«
Wir betreten den klimatisierten Supermarkt, wo Vanessa schnurstracks auf die Weinabteilung zusteuert und zielsicher eine Flasche Pinot Grigio aus dem Regal nimmt. Ich habe den Verdacht, dass sie das nicht zum ersten Mal tut - kein Herumwandern vor den Regalen auf der Suche nach dem Richtigen, kein Prüfen und Studieren der Etiketten, ehe man eine Wahl trifft. Stattdessen ist es vielmehr eine zügigprofessionelle Rein-raus-Angelegenheit. Wir stehen an der Kasse, und sie zückt ihre Kreditkarte.
»Oh, und die hier«, sagt sie und pflückt zwei Familientüten Maltesers vom Ständer.
Oje. Das ist gar nicht gut. Vanessa hat sich letzten Monat bei den Weight Watchers eingeschrieben und kommt ganz gut zurecht. Die letzten Male, als wir uns gesehen haben, ging es nur um Points, Points, Points. Ich betrachte die Weinflasche und die Schokolade. Das muss ein ganzer Wochenvorrat sein.
»Und eine Schachtel Marlboro Lights.«
»Ich dachte, du hättest aufgehört«, sage ich, sorgsam darauf bedacht, nicht wie die missbilligende, gesundheitsfanatische nicht rauchende Freundin zu klingen, wobei ich natürlich genau diesen Eindruck erwecke.
»Habe ich auch.« Grimmig tippt sie ihre PIN-Nummer ein und reißt der Kassiererin die Einkaufstüte aus der Hand, die ängstlich die eins achtzig große Frau mit dem irren Blick anstarrt, die sich trotz der riesigen Verbotsschilder noch im Laden eine Zigarette anzündet.
Okay, es ist vielleicht nicht der allergünstigste Zeitpunkt, ihr einen Vortrag über die Gefahren des Nikotins zu halten. Stattdessen treten wir durch die automatischen Glastüren und stehen auf dem Bürgersteig. Fieberhaft durchforste ich mein Hirn nach etwas, das ich sagen könnte. Etwas Nettes, Entspannendes. Etwas, womit ich sie ablenken kann. »Sieh nur, dieses hübsche Bild da.« Ich bleibe vor einem Antiquitätengeschäft stehen und deute auf ein historisches Ölgemälde.
Vanessa nimmt einen Zug von ihrer Zigarette. »Was, das mit dem Torero, der den Bullen abschlachtet?«, fragt sie verblüfft. »Das findest du schön?«
Oh Mist, ich habe nicht mal genau hingesehen.
Auf den zweiten Blick erkenne ich das aufgebauschte rote Torero-Tuch, die Schwerter, die im Nacken des Bullen stecken, und das Blut, das sein Fell färbt. Igitt. Das Bild ist widerlich.
»Aber du bist doch Vegetarierin. Ich dachte, du würdest so etwas schrecklich finden.«
»Tue ich auch«, erkläre ich hastig und erschaudere. »Aber … die Pinselführung ist … interessant.«
»Tatsächlich?«, hakt sie zweifelnd nach. »Wo denn?«
Ich und meine große Klappe.
»Äh … ja, sieh mal hier …« Ich trete vors Schaufenster und spähe hinein. Vanessa gesellt sich zu mir. »Siehst du?«, frage ich mit einer vagen Geste. »Okay, gehen wir.« Ich hake mich bei ihr unter und wende mich zum Gehen, aber sie rührt sich nicht.
»Wo? Ich sehe es nicht«, murmelt sie.
Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie jemanden zu etwas angestachelt haben und sich wünschen, Sie hätten es nicht getan?
»Da drüben.« Ich ziehe ein bisschen fester, doch noch immer rührt sie sich nicht.
»Ich sehe beim besten Willen nicht, was du meinst«, blafft sie in einem Anfall von passiver Aggressivität.
Passiv-aggressiv. Das ist einer der Begriffe, die ich aus meinen Ratgebern gelernt habe.
»Ach, ist doch egal. Komm, lass uns gehen.« In diesem Moment bemerke ich zwei Gestalten in dem Laden. Einer von ihnen ist ein grauhaariger alter Mann in einem Tweedjackett. Wahrscheinlich der Besitzer, denke ich und beobachte, wie er nach etwas greift und es dem Barmann aus dem Pub zeigt.
»Oh Gott, nicht der«, stöhne ich.
»Wer?«, hakt Vanessa prompt nach. Ich schwöre, diese Frau hat die Reflexe einer Katze.
»Niemand«, murmle ich, senke den Kopf und wende mich eilig ab.
»Wo denn? Im Laden?«
Vanessa gehört zu den Leuten, die sich bei dem Satz »Nicht hinsehen« auf der Stelle umdrehen und hinstarren. Und zwar so, dass es jeder mitbekommt.
»Ohh, der da?«, ruft sie und drückt sich förmlich die Nase an der Scheibe platt.
Verdammt, bestimmt dreht er sich jeden Moment herum und sieht, wie meine Freundin wie einer dieser Plüsch-Garfields an der Scheibe klebt. Und ich daneben.
Er sieht herüber. Und sieht mich. Scheiße. Meine Verlegenheit ist grenzenlos, als
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