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Heute schon geträumt

Heute schon geträumt

Titel: Heute schon geträumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Potter
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einen äußerst beängstigenden Artikel über Quecksilbervergiftung gelesen hatte. Und zwei schiefe Frontzähne habe ich mit Spangen korrigieren lassen, außerdem ist mein gesamtes Gebiss gebleacht. Mein Lächeln sieht völlig anders aus als früher. Wie so viele andere Dinge an mir …
    Und dann geht mir langsam ein Licht auf. Kein Wunder, dass sie mich nicht wiedererkennt - wir sehen nicht nur völlig verschieden aus, sondern sind es auch. Natürlich bin ich wie eine Fremde für sie. Sie kennt mich nicht. Mich, die Frau, die sie in zehn Jahren sein wird. Die nicht mehr auf den Spitznamen Lottie hört, sondern das erwachsenere und gereiftere Charlotte bevorzugt. Die Frau ohne Amalgam, ohne die langen braunen Locken, die dichten Brauen und den unglaublichen Yorkshire-Zungenschlag. Wir sind nicht mehr dieselben Charlottes. Ich bin nicht sie, und sie ist nicht ich.Wir sind zwei grundverschiedene Menschen.
    Ich meine, heiliger Strohsack, sieht das wie mein Dekolleté aus? Ich starre verblüfft darauf. Mein jüngeres Ich trägt ein dünnes Top, aus dem ihre Brüste jede Sekunde herauszuspringen drohen. Automatisch schließe ich einen Knopf an meiner Bluse. Ich habe völlig vergessen, dass ich damals noch einige Pfunde mehr auf die Waage brachte, weil ich keinen Sport getrieben und ständig Junkfood in mich hineingestopft habe. Aber nun, da ich aktiv bin und auf eine gesunde Ernährung achte, fühle ich mich tausendmal besser.
    »Äh … hübsches Top«, bemerke ich, als sie mich ertappt.
    »Danke. Selbst genäht.« Sie grinst stolz.
    Ja, ich weiß. Aus einem Taschentuch. Das hielt ich damals für eine Spitzenidee. Zehn Jahre später ist es so, als stünde  ich im BH im Pub. Mal ernsthaft, was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich bin ja praktisch nackt!
    »Und ist dir nicht … kalt?«, frage ich und widerstehe dem Drang, irgendeine Jacke von einem Stuhl zu pflücken und ihr über die Schultern zu legen.
    »Kalt?« Sie lacht. »Oh, nein, absolut nicht. Ich finde es sogar ziemlich heiß hier.« Sie fächelt sich mit einem Bierdeckel Luft zu, wobei ihre silbernen Armreifen laut klimpern.
    Ich versteife mich. Die Armreifen sind nicht das Einzige, was sich hier bewegt. Das Taschentuch besteht aus einem dünnen Seidenstoff, und - oh Gott! Ist das eine Brustwarze? Mir fallen zwei Dinge auf: 1.) Ich trage keinen BH, und 2.) Ich habe mich wie durch ein Wunder in meine Mutter verwandelt.
    Schluss. Das war’s. Ich muss hier raus. Ich schnappe meine Tasche und will kehrtmachen.
    »Bist du sicher, dass du nichts mehr zu trinken willst?«, ruft Lottie und folgt mir.
    »Äh … nein … danke. Ich muss los.« Ich schüttle den Kopf.
    »Oh.Alles klar.« Sie zuckt die Achseln und macht sich auf den Weg zur Bar, wo sie ein Glas Cider bestellt.
    Eine Woge der Sentimentalität überkommt mich. Cider war mein Lieblingsgetränk, bevor ich mir einen elitäreren Geschmack zugelegt habe und auf Wein umgestiegen bin. Einen Moment lang stehe ich da und sehe zu ihr hinüber. Sie fummelt an ihrem Haar herum, während sie auf ihren Drink wartet, und plaudert mit dem Kerl neben ihr. Geistesabwesend wandert ihre Hand zu ihrem Ohrring, als sie über einen Scherz lacht, an ihrem Nagel kaut, das Gesicht verzieht, mit Blicken um sich wirft.
    Völlig fasziniert beobachte ich sie.Was für ein merkwürdiges Gefühl. Ein bisschen so wie bei meinen Besuchen zu Hause, wenn ich mir mit Mum und Dad alte Videos ansehe und wir uns beim Anblick unserer altmodischen Frisuren und Klamotten vor Lachen biegen. Nur dass es jetzt nichts zu lachen gibt. Das Ganze ist einfach so surreal. Habe ich ernsthaft so kurze Röcke getragen? Und diese gewaltige, aufgebauschte Frisur? Moment mal … der Kerl neben ihr bietet ihr eine Zigarette an. Rauche ich etwa?
    Tief in den Windungen meines Gehirns meldet sich eine Stimme, die mir zuruft, ich solle zusehen, dass ich so schnell wie möglich von hier wegkomme. Raus hier! Los, hau ab! Es ist ganz einfach - umdrehen, in den Wagen steigen und auf demselben Weg zurückfahren, wie du hergekommen bist. Und erst stehen bleiben, wenn du zu Hause bist und im Schlafanzug mit einem Brandy in der Hand vor einer Folge  Sex and the City sitzt.
    Das ist mein Allheilmittel in sämtlichen Lebenslagen.
    Ich meine, das ist doch verrückt, Charlotte. Völlig verrückt.
    Aber auch spannend, meldet sich eine andere Stimme zu Wort, und aus heiterem Himmel packt mich so etwas wie Abenteuerlust.Vielleicht schadet es ja nicht, noch eine Weile zu bleiben und

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