Heute schon geträumt
reißt mich ins Hier und Jetzt zurück. »Ich trage keine Uhr«, erklärt sie lächelnd.
»Du trägst keine Uhr?«, wiederhole ich erstaunt. Undenkbar für mich!
»Nein.«
Zum x-ten Mal an diesem Tag sehe ich auf meine Armbanduhr, während ich diese schockierende Tatsache verdaue. »Äh … zwanzig nach sechs.«
Sie schnalzt mit der Zunge. »Typisch. Kommt grundsätzlich zu spät.«
»Wer?«, frage ich, obwohl ich es eigentlich bereits weiß. Vanessa. Ganz klar.
»Meine Freundin Nessy. Eigentlich wollten wir uns hier treffen, aber sie ist ja nie pünktlich.«
Tja, wenigstens manche Dinge ändern sich nie, denke ich und unterdrücke ein wehmütiges Lächeln.
»Ich gebe ihr noch zehn Minuten, dann gehe ich nach Hause. Ich wohne gleich um die Ecke, das heißt, ich kann zu Fuß gehen. Was echt gut ist, weil mein Wagen gerade in der Werkstatt steht.« Sie schneidet eine Grimasse. »Ich hatte einen kleinen Unfall.«
Klar. Der Laternenpfahl. Deshalb stand mein alter Käfer nicht vor dem Haus.
»Wohin hast du ihn denn gebracht?«
»Oh, in irgendeine Werkstatt auf der Harrow Road.«
»Barry’s Motors?«
»Ja, genau.« Sie nickt. »Woher weißt du das?«
Weil sie mich über den Tisch gezogen haben, denke ich grimmig, spreche es aber nicht aus. »Oh, ich hab meinen Wagen auch mal dort reparieren lassen«, sage ich nur.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, sondern weiß nur noch, dass ich eine geradezu lächerlich hohe Summe hingeblättert habe, weil ich jung und naiv war und nicht wusste, wie ich mich wehren sollte. Am Ende habe ich mir sogar von Vanessa etwas leihen müssen, weil mir das Geld für die Miete fehlte.
»Wann ist er fertig?«
»Irgendwann nächste Woche, haben sie gesagt.«
»Tja, wenn ich an deiner Stelle wäre -« In diesem Moment wird mir die Ironie meiner Worte bewusst, und ich unterbreche mich. »Ich würde einen Freund mitnehmen, wenn du ihn abholst, nur um sicher sein zu können, dass sie es auch anständig gemacht haben.Wenn du nur ansatzweise so bist wie ich, verstehst du absolut nichts von Autos.«
Sie lächelt dankbar. »Danke, das ist ein guter Tipp.«
»Gern geschehen«, sage ich und unterdrücke ein Gähnen.
Mit einem Mal gerät unsere Unterhaltung ins Stocken. Mir fällt auf, dass ich schrecklich müde bin. Ein langer Tag liegt hinter mir. Der seltsamste, bizarrste, bemerkenswerteste Tag meines ganzen Lebens, aber jetzt spüre ich, wie viel er mir abverlangt hat, und ich möchte einfach nur, dass er zu Ende geht. Ich will, dass alles wieder normal ist.
Eine Woge der Erschöpfung überkommt mich. Ich trinke aus und nehme meine Tasche.Wenn ich jetzt gehe, komme ich wenigstens früh ins Bett. Und wenn ich morgen früh aufwache, ist das hier eine Geschichte, wie man sie bei Partys zum Besten gibt. Nach dem Motto »Ihr werdet es nicht glauben, aber mir ist da etwas passiert …« Genau wie Vanessas Story von dem Gespenst auf der Treppe, als sie acht Jahre alt war.
Obwohl das Aufeinandertreffen mit dem eigenen jüngeren Ich ein wenig anders ist als die Sichtung eines schnöden alten Gespenstes, das ein bisschen mit den Ketten rasselt. Aber wie gesagt, das wird mir sowieso keiner glauben. Ich kann es ja selbst kaum glauben, obwohl ich es live erlebe. Ich lasse den Blick ein letztes Mal umherschweifen.
»Hey, Lottie, ich glaube, ich -« Ich halte inne, als mein Blick auf ein Poster an der Wand fällt. »Shattered Genius. Samstagabend im Wellington Arms. Ausverkauft.« Moment mal. Irgendetwas klingelt bei mir. Ich sehe mir das grobkörnige Poster genauer an. Kneife die Augen zusammen, sehe genauer hin …
»Kennst du die? Die sind toll!«
Ihre Stimme reißt mich in die Gegenwart zurück, und ich wende mich um.
Offen gestanden habe ich keine Ahnung, trotzdem nicke ich vage, während ich meine Erinnerung durchforste. Ich bin so müde, dass mir die Buchstaben vor den Augen verschwimmen, aber bestimmt wird es mir gleich wieder einfallen.
»Ich habe übrigens eine Karte übrig. Meine Freundin Nessy wollte eigentlich mitgehen, aber jetzt trifft sie sich mit Julian, ihrem neuen Freund. Die beiden sind total ineinander verknallt.« Sie verdreht die Augen.
Mit einem Mal wird mir bewusst, wie nett ich früher war. Ich bin von Yorkshire nach London gezogen, eine Stadt, die damals noch nicht auf mich abgefärbt hatte. Heute, nach zehn Jahren, dagegen bleibe ich lieber für mich und mustere Fremde argwöhnisch, wenn sie mich ansprechen. Genau das macht London aus den
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