Heute Und in Ewigkeit
genommen hatte.
Ich ging von meinem Eingang um die Ecke zu Lulus, schlurfte mit den Hausschuhen durch das Ahornlaub und versuchte, das herbstliche Versprechen von Veränderungen zu erschnuppern. Die brauchte ich.
Im Sommer, nach der fünften oder sechsten Verabredung mit Michael Epstein, hatte ich gehofft, der Augendoktor könnte meine Fahrkarte in ein anderes Leben sein. Aber bis zum Labor Day hatte ich ihn fast ebenso rasch von mir gestoßen, wie ich ihn in mein Bett gelassen hatte. Der Augendoktor hatte sich nicht als Mann erwiesen, bei dem ich die gespaltene Persönlichkeit durchhalten konnte, die meine Waisengeschichte erforderte. Er war zu aufrichtig, ein Mensch, den ich nicht gern belog. Außerdem fehlte ihm dieses besondere Etwas, von dem Lulu behauptete, ich würde es schon erkennen – dieses Etwas würde mir augenblicklich die Gewissheit geben, dass es sicher war, meine Geheimnisse mit ihm zu teilen.
Manchmal hatte es fast den Anschein, als sei Drew der einzige lebende Mann, dem diese Ehre gebührte, und den hatte Lulu.
»Mommy schläft noch«, verkündete Ruby, als ich die Küche betrat.
»Hat Daddy schon Kaffee gekocht?« Ich beugte mich hinab und küsste sie.
»Du stinkst«, entgegnete Ruby. »Hast du heute nicht geduscht?«
»Noch nicht«, sagte ich. »Wie wäre es, wenn du mir eine Tasse Kaffee einschenkst, du Naseweis?«
»Du weißt genau, dass ich keine heißen Sachen anfassen darf«, erwiderte Ruby. »Du sollst mich auf die Probe stellen, ob ich es trotzdem mache, oder?«
»Genau.« Lulu und Drew gaben Regeln vor, und ich stellte sie auf die Probe. Ich nahm mir eine Tasse aus dem Küchenschrank.
Drew kam herein und rubbelte sich mit einem Handtuch das Haar trocken. »Gibt es bei dir keinen Kaffee?«
»Habe vergessen einzukaufen.«
Er reichte mir ein schwitzendes Silberkännchen aus dem Kühlschrank. Ich goss die dicke Sahne, die Drew-aus-Nebraska so sehr mochte, in meinen Kaffee und sah den satten Wirbeln zu, die die dampfende schwarze Flüssigkeit aufhellten, wie meine Magermilch das nie tat.
»Ist eine neue Mischung«, bemerkte Drew. »Wie schmeckt er dir?«
Drew war kaffeebesessen. Ich trank einen kleinen Schluck, dann noch einen. »Sehr gut. Perfekt.« Wenn ich heiratete, würde mein Mann vermutlich von irgendetwas Grässlichem besessen sein, dessen wir uns beide schämen mussten, etwa Pornos oder Käsepommes.
Mein Schwager schüttelte den Kopf. »Du bist eine erbärmliche Jury. Du magst doch alles.«
»Warum fragst du mich dann?«
»Na ja, nicht alles. Michael erkundigt sich immer noch nach dir.«
»Lass es gut sein, Drew.«
Er reichte mir eine Untertasse. »Er ist ein guter Mann, Merry.«
Ich ließ mich auf einen Küchenstuhl sinken. »Ruby, bring mir eine Schüssel, ja?«
Ruby blickte von dem Buch auf, das offen vor ihr auf dem Tisch lag. »Ich lese.«
»Und ich brauche Hilfe von meiner Nichte, weil ich so müde bin, dass ich erst meinen Kaffee austrinken müsste, ehe ich die Kraft finde, mir eine Schüssel Cheerios zu machen. Also sei ein braves Mädchen und bring mir eine Schüssel.«
Ruby gab einen abfälligen Laut von sich, um zu demonstrieren, was sie von mir hielt, stand aber auf. »Weißt du, was, Tante Merry, am Samstag übernachte ich bei meiner Freundin Jessica. Ihr Vater bringt uns zum Schwimmkurs. Dann bin ich nicht da, um dich zu bedienen.« Sie zog einen kleinen weißen Tritt aus Plastik vor die Arbeitsfläche und streckte sich nach einer Schüssel im Oberschrank. Sie war klein für ihr Alter, genau wie ich damals.
»Schön für dich.« Ich gähnte und ließ den Kopf in den Nacken fallen.
»Du bist aber furchtbar müde«, bemerkte Drew.
»Ich habe bis ein Uhr morgens gelesen.«
»Muss ja ziemlich interessant gewesen sein, das Buch.« Anscheinend hatte er gehört, wie ich letzte Nacht nach Hause gekommen war.
»Danke, Schätzchen.« Ich nahm die Schüssel von Ruby entgegen. »War es«, sagte ich zu Drew. Ich trank den Kaffee aus und hob bittend und mit zitternder Hand die Tasse.
Drew schenkte mir nach. »Ich mache mir Sorgen, weil du oft so lange liest.«
Ich nahm eine kleine Menge der Knusperkringel mit Milch auf den Löffel und versuchte, mir den Ekel nicht anmerken zu lassen. Mein Magen schwankte auf dem schmalen Grat zwischen Erbrechen und gerade noch erträglicher Übelkeit. Essen verhinderte manchmal das Schlimmste – ich betete darum, dass es heute Morgen so sein möge.
»Morgen.« Lulu kam gähnend herein, den Boston Globe in der Hand, der
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