Hex Hall 02 - Hawkins, R: Hex Hall 02
eine Ahnung von dem gehabt hatte, was die Zukunft für sie bereithielte.
Oder für mich.
9
Am nächsten Morgen war von Dad noch immer nichts zu sehen. Ich erwachte früh und gönnte mir eine Marathondusche. Glaubt mir, hättet ihr euch neun Monate lang ein Badezimmer mit allen möglichen übernatürlichen Geschöpfen teilen müssen, würdet ihr vor Freude über eine eigene Dusche auch erstmal so richtig ausflippen. Irgendwann am Abend zuvor waren alle meine Taschen ausgepackt worden, und meine Klamotten lagen jetzt fein säuberlich gefaltet in der bemalten Kommode. Als ich daran dachte, wie hübsch alle am Vortag gekleidet gewesen waren, spielte ich für einen Augenblick mit dem Gedanken, das Kleid hervorzukramen, das ich mir gekauft hatte. Am Ende entschied ich mich jedoch nur für eine saubere Jeans und ein preiselbeerfarbenes T-Shirt – aber immerhin hatte ich mir meine hübschen Sandalen angezogen – statt der ausgelatschten Turnschuhe.
Bevor ich nach unten ging, sah ich noch bei Jenna vorbei, aber sie war nicht da. Cals Tür war geschlossen, und als ich schon anklopfen wollte, fiel mir ein, dass er wahrscheinlich noch schlief. Plötzlich tauchte vor meinem inneren Auge das Bild eines völlig verschlafenen Cal auf, der mir halbnackt seine Tür öffnete. Mein Gesicht wurde so rot wie mein T-Shirt.
Ich war noch immer ein bisschen durcheinander, als ich im Hauptflur beinahe mit Lara Casnoff zusammenstieß. Sie trug ein dunkles Kostüm und hielt einen Stapel Papiere, ein Handy und einen dampfenden Becher Kaffee in den Händen. Der Kaffee roch so gut, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. »Oh, Sophie, Sie sind schon wach«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Hier, bitte« – sie reichte mir den Becher – »den wollte ich Ihnen gerade nach oben bringen.«
»Oh, wow, das ist wirklich nett von Ihnen«, erwiderte ich und setzte im Geiste Lara auf meine Liste von Leuten, die umwerfend sind . In Hex Hall wurden wir morgens praktisch aus dem Bett gesprengt , und zwar von einem Weckruf, der wie die Kreuzung aus einem Nebelhorn und jaulenden Höllenhunden klang. Da war das Aufwachen doch erheblich angenehmer, wenn einem morgens der Kaffee ans Bett gebracht wurde.
»Außerdem soll ich Ihnen von Ihrem Vater ausrichten, dass er heute geschäftlich unterwegs ist. Am Abend müsste er aber wieder zurück sein.«
»Oh. Äh … okay, danke.«
»Es tut ihm wirklich schrecklich leid, Ihren ersten Tag zu versäumen.« Sie runzelte leicht die Stirn.
Ich konnte mir ein sarkastisches Lachen nicht verkneifen. »Na ja, Dad hat schon ziemlich viele meiner ersten Tage verpasst, daran bin ich also wirklich gewöhnt.«
Ich hatte den Eindruck, Lara wollte Dad sofort verteidigen, doch bevor sie das tun konnte, fragte ich: »So, und in welcher der neuntausend Küchen könnte ich wohl ein bisschen Müsli auftreiben? Ich hab gestern das Abendessen ausfallen lassen.«
Sofort war Lara wieder ganz bei der Sache. »Oh, natürlich. Das Frühstück wird im östlichen Speisesaal serviert.«
Sie gab mir eine Wegbeschreibung, die drei Abbiegungen nach rechts, eine Treppenflucht und einen Musikgarten enthielt, was für eine Art Raum das auch immer sein mochte. Als ich sie nur verständnislos ansah, winkte sie ab und sagte: »Ach, ich zeige Ihnen den Weg einfach selbst.«
»Danke«, sagte ich und trottete hinter ihr her. »Vielleicht schaffe ich es ja bis zum Ende der Ferien, mich hier zurechtzufinden.«
Lara lachte. »Ich komme schon seit Jahrzehnten nach Thorne Abbey und verliere trotzdem noch immer die Orientierung.«
»Wow«, sagte ich, als wir einen langen, mit Bildern gesäumten Flur entlanggingen. Ich musste gleich zweimal hinsehen. Dort hingen Gemälde von Werwölfen in Gewändern aus dem 18. Jahrhundert, deren silbriges Haar unter den Kniebundhosen hervorlugte. Auf einem Bild war eine ganze Hexenfamilie dargestellt, schätzungsweise Ende 16., Anfang 17. Jahrhundert – Unmengen an Spitzenrüschen zierten ihre Hälse, und sie schwebten alle unter einem Baum, während silbrige Funken reiner Magie um sie herumtanzten.
Plötzlich begriff ich, was Lara zuvor gesagt hatte. »Jahrzehnte? Dann kennen Sie meinen Dad also, seit Sie beide Kinder waren?«
Sie nickte. »Allerdings. Thorne Abbey war eine Schenkung Ihrer Großmutter an den Rat, bevor … bevor sie verschied. Anastasia und ich haben mit unserem Vater viele Sommer hier verbracht.« Sie hielt inne und lächelte mich andeutungsweise an. »Eines haben wir
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