Hexenblut

Schrei ließ sie die Schachtel wieder in den Eimer fallen.
    Sie konnte so etwas nicht tun, sie wollte nicht. Aber was sollte daran schlimmer sein als an einer Überdosis Schlafmittel? Dass es brutaler war? So direkt?
    Tu es endlich, drängte Hecate sie.
    In diesem Moment verspürte Kari einen Hauch Mitgefühl für Holly, die Hecate getötet hatte. Nur einen Hauch.
    Als sie das Gift - denn genau darum handelte es sich - mit dem Nassfutter vermischt hatte und ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand sie Osiris in einem stabilen Karton voller Kleidungsstücke vor. Er lag in einem großen, altmodischen Beutel, der mit Blei ausgeschlagen war. In solchen Beuteln hatte man früher, als man so etwas noch zum Fotografieren benutzt hatte, Negativfilm vor der Röntgenstrahlung bei der Gepäckkontrolle geschützt. Sie hatte keine Ahnung, wo die Katzen das Ding gefunden hatten oder warum Nigel es überhaupt besaß, doch ihr wurde flau im Magen, als sie ihn friedlich zusammengerollt darin liegen sah. Der Beutel erinnerte sie an einen Leichensack.
    Mit schrecklich zitternder Hand hielt sie ihm das Schälchen Katzenfutter hin. Er blickte zu ihr auf, leckte ihr über die Fingerspitze und schlang dann das Futter herunter.
    Zwanzig Minuten später kam das Taxi.
    Scarborough: Amanda, Nicole, Tommy, Richard, Owen
    Das Kind der Magie ist geschaffen binne eyn Herzschlag, der Frau geboren binne eyn Augenblick. Seyn Vater ist selbst der Mutter unbekannt. Und wenn dies Kind zum Manne gereyft, so ist die Welt verloren, ja, Erd und Himmel selbst getränkt im Blute des Draken...
    »Nein«, sagte Amanda laut, als sie Merlins Buch schloss und hastig davor zurückwich. Sie schauderte so heftig, als hätte jemand ihr einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet - oder ihr künftiges Grab geschändet. Sie rieb sich die Arme und schüttelte den Kopf. Da musste sie etwas falsch verstanden haben.
    Es war drei Uhr morgens, und sie hatte im Bett gelesen. In der Magie galt diese Zeit als die dunklen Stunden der Seele, in denen die Schwarze Magie am mächtigsten ist. Vielleicht hatte irgendein böser Zauber, der noch in diesem Haus nachhallte, die Worte durcheinandergeworfen. Oder sie war eingeschlafen und hatte das geträumt.
    Sie murmelte einen Schutzzauber und schlug das Buch vorsichtig wieder auf. Die Worte waren noch da. Ein Kind mit einem geheimnisvollen Vater, »geschaffen binne eyn Herzschlag«. Wenn dieses Kind erwachsen wurde, bedeutete dies das Ende der Welt.
    Ihr Magen krampfte sich zusammen. Damit kann nicht Owen gemeint sein. Nicht unser kleiner Schatz.
    Sie las weiter.
    Drey sind der Zeychen: Das Kind wird tragen ein Mal hinter dem linken Ohr - Das Kind wird singen, und die Monstren sind flugs herbey - Das Kind wird töten eyn unschuldig Wesen. Zeygt ein Kindleyn diese Zeychen, so tätest Du besser daran, es bey den Füßen zu packen und seyn Kopf am Kamin zu zerschmettern, denn es am Leben zu lassen. Denn lebet er, wird alles andere sterben.
    Sie lachte laut auf. Owen trug keinerlei Mal hinter dem linken Ohr - auch nicht hinter dem rechten. Und was die beiden anderen Zeichen anging...
    Unmöglich.
    Sie klappte das Buch zu, legte es auf ihren Nachttisch und wischte sich die Hände an der Schlafanzughose ab. Das reichte aber nicht - sie wollte sich die Hände waschen. Also schnappte sie sich ihre Taschenlampe und trat auf den Flur. Wie immer hielt sie vor Tommys Tür kurz inne. Sie waren jetzt verlobt. Es wäre ganz in Ordnung, wenn sie jetzt zu ihm ins Bett stieg, um sich ein wenig trösten zu lassen.
    Nicht, solange Dad hier im Haus ist, sagte sie sich.
    Sie ging weiter den Flur entlang zum Bad, vorbei an der Tür, die zu Nicoles und Owens Zimmer und dem angeschlossenen Schlafzimmer von Richard führte. Sie hörte leises Schnarchen und lächelte in sich hinein.
    Dann hörte sie... Gesang... eine liebliche, sehr hohe, hauchige Stimme.
    Sie blieb stehen wie angewurzelt und lauschte. Fünf Töne, immerzu wiederholt. La, la, la, la-la. Vielleicht war das ein Spielzeug. So eine Puppe, bei der man seine Stimme aufzeichnen konnte und die sie wieder abspielte, wenn das Kind die Puppe drückte oder an ihrer Nase zog.
    Fünf Töne. La, la, la, la-la.
    Owen.
    Ihr Gesicht war auf einmal wie taub. Er war noch zu klein, um zu singen. Sie hörte das gar nicht wirklich. Jemand gaukelte ihr das nur vor. Es war dieses Haus, dieses schreckliche, bösartige Haus.
    Aber weißt du noch, was Nicole gesagt hat - dass er vor ihren Augen gesprochen und sich verwandelt