Hexenerbe
Sie fühlte sich völlig unzulänglich, weil es ihr nicht gelang, einen Weg nach draußen zu finden - das wahre Leben war eben doch ganz anders als ein Kinofilm. Und sie schämte sich vor sich selbst, weil sie so schnell aufgab.
James war seit zwei Tagen verschwunden, was einerseits eine Erleichterung war, sie aber andererseits unerträglich nervös machte, weil sie sich ständig fragte, was als Nächstes geschehen würde. Die Anspannung schnürte ihr die Brust zu, als sie das Relief des Mondes auf dem geschnitzten Kopfteil des Bettes betrachtete. Alle Hexen spürten es, wenn der Vollmond leuchtete. Es waren nur noch zwei Nächte bis zur Julnacht, einer der heiligsten Nächte im Kalender der Coventry, der Hexenwelt. In dieser Nacht, so hatte James ihr angekündigt, würde er sie in seinen Bann schlagen. Er würde sie zwingen, seine Fürstin zu sein, um als ritueller Fürst ihre magischen Kräfte auszubeuten und sie für seine eigenen, finsteren Zwecke zu missbrauchen ... und sie konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern. Ihm auf diese Weise hörig gemacht zu werden war die demütigendste Vergewaltigung, die sie sich vorstellen konnte.
Ich habe es vermasselt. Ich hätte den Coven nicht verlassen dürfen.
Zornig schleuderte sie einen weiteren Energieblitz gegen die Tür.
Zu ihrem gewaltigen Schrecken splitterte das Holz der Tür am Rand vom Türknauf bis obenhin auf.
Sie starrte den Riss mit offenem Mund an und konnte es gar nicht glauben. Sie rannte hinüber, drückte gegen die angeknackste Stelle und hörte ein scharfes Knacken, als das Holz weiter nachgab. Ihr blieb fast das Herz stehen. Sie blickte sich schuldbewusst um und lauschte nach Schritten, weil sie fürchtete, jemand könnte bemerkt haben, was ihr gerade gelungen war. Dann schoss sie noch einen Blitz auf das Holz ab.
Diesmal klaffte ein so breiter Spalt auf, dass sie die Hand hindurchquetschen und die Tür von außen aufschließen konnte. Sie schrammte sich an dem gesplitterten Holz die Hand auf, doch sie hätte sich auch durch eine zerbrochene Fensterscheibe geschoben, um aus diesem Raum zu entkommen.
Vorsichtig schob sie die Tür auf und spähte den Flur entlang. Es war niemand da, doch das bedeutete nicht notwendigerweise, dass die Tür unbewacht war. Womöglich hatte sie bereits irgendeinen Alarm ausgelöst, und die Handlanger der Moores waren schon auf dem Weg hierher, um sie wieder einzuschließen.
Sie tat einen Schritt hinaus auf den rot und schwarz tapezierten Flur, und dann noch einen. Sie schüttelte den Kopf, völlig erstaunt darüber, dass sie auch nur so weit gekommen war. Hastig warf sie einen Blick über die Schulter und suchte nach irgendeiner Bewegung.
Dann rannte sie, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Sie hatte keine Ahnung, wohin sie lief, und sie sagte sich, dass sie langsamer laufen und sich erst einen Plan zurechtlegen sollte. Aber wie? Was für einen Plan? Sie wusste rein gar nichts über dieses Anwesen, außer, dass es die böseste Macht in der gesamten Coventry beherbergte - den Obersten Zirkel. Und dass hier drin Menschen starben.
Dass ich hier drin sterben könnte.
Also rannte sie.
Auf dem Totenschädel-Thron neigte Sir William neugierig den Kopf zur Seite, als Matthew Monroe, einer seiner wichtigsten Vertrauten, den Saal betrat.
Der rothaarige Monroe erklärte mit verwirrter Miene: »Bisher konnten wir Folgendes feststellen: Jemand hat an unserem Wachposten in Nordlondon Alarm ausgelöst, aber es ist nichts geschehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Anscheinend wurden keine Dämonen und Wichtel entsandt. Es gab keine Kampfhandlungen, und jetzt scheint alles ruhig zu sein.«
Sir William schüttelte den Kopf. »Da stimmt etwas nicht. Unser Alarmsystem wird nur aktiviert, wenn eine identifizierbare Bedrohung es auslöst. Also eine Hexe.«
Monroe nickte. »So ist es, Sir William.«
»Und dennoch ist nichts passiert.«
»Auch das ist richtig.« Monroe verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber ich glaube nicht, dass es ein Fehlalarm war. Ich vermute, jemand hat Alarm ausgelöst, ihn durch Magie ausgeschaltet und dann wieder neu eingestellt, ehe irgendetwas passieren konnte.«
»Das ist eine logische Erklärung. Aber sie ist natürlich sehr besorgniserregend.«
»Allerdings, Sir«, stimmte Monroe zu.
Sir William kniff die Augen zusammen. Langsam schmolz seine menschliche Gestalt dahin und enthüllte seine dämonische Erscheinung. Er war stolz darauf. Seine Ahnen hatten lange und hart dafür gearbeitet, in
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