Hexenerbe
tat weh, doch Holly blieb still und konzentriert.
Nun war Amanda an der Reihe. Als der Dolch ihr die Handfläche aufschlitzte, sog sie scharf den Atem ein und murmelte: »Au.«
»Lasst mich sehen«, befahl Holly. »Lasst mich durch die lebendigen Augen der Cathers sehen. Und der Deveraux«, fügte sie hinzu.
»Nein«, flüsterte Amanda. »Halt dich von denen fern.«
»Und der Deveraux«, wiederholte Holly mit Nachdruck.
Auch die Unruhe, die in ihrem Zirkel entstand, ignorierte sie. Sie presste die Handfläche an Amandas - die Brandzeichen auf ihren Handflächen fügten sich zu zwei Dritteln einer Lilie zusammen, dem Symbol des mächtigen Hauses Cahors. Sogleich spürte sie, wie ihre vereinte Kraft durch ihre Adern strömte.
Wenn wir Nicole zurückgeholt haben, werden wir gemeinsam die drei Fürstinnen der Lilie sein. Dann kann uns nichts und niemand mehr davon abhalten, zu tun, was immer wir wollen.
»Beruhige deinen Geist, Priesterin«, ermahnte Philippe sie.
Holly atmete tief durch und tat, was er gesagt hatte.
San Francisco
Richard Anderson saß da und dachte nach. Heutzutage schien er kaum noch etwas anderes zu tun. Er hatte lange getrauert - sehr lange. Dann, eines Tages - gestern, um genau zu sein -, hatte er einfach aufgehört. Er war fertig. Fertig damit, um seine Frau zu trauern, um seine Ehe, um sein Leben. Es war, als sei er plötzlich aufgewacht.
Er blickte sich um, und da waren Fremde, die sich um ihn kümmerten. Eine war wohl die Mutter oder Tante einer Freundin von Amanda. Er hatte keine Ahnung, wer der Indianer war. Sie redeten oft besorgt über Barbara, der es offenbar nicht gut ging.
Und niemand konnte ihm sagen, wie es seinen Mädchen ging.
Es musste sich dringend etwas ändern. Doch zuerst brauchte er mehr Informationen. Wenn er in Vietnam eines gelernt hatte, dann, dass man verdammt genau wissen sollte, was einen erwartete, ehe man absprang. Abgesehen davon hatte er vor allem eines aus dem Krieg mitgebracht: ein großes Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität. Als er seine Frau Marie-Claire kennengelernt hatte, war er ein Draufgänger gewesen. Er war tollkühne Risiken eingegangen. Als er nach dem Krieg zu seiner jungen Frau heimgekehrt war, hatte er sich den sichersten Job gesucht, den er finden konnte, und ein sehr häusliches Leben begonnen. Daraus war seine Computerfirma entstanden, und die war nie ein besonders riskantes Geschäft gewesen.
Marie-Claire hatte seinen Drang nach Stabilität nie verstanden, das war ihm jetzt klar. Vielleicht war er damals einfach nicht mehr aufregend genug für sie gewesen. Doch statt zu versuchen, mit ihm darüber zu reden, oder sich scheiden zu lassen, hatte sie ihn betrogen. Ihre Schuld. Er hatte davon gewusst und nichts getan. Seine Schuld. Er hatte zu viel Angst gehabt, sie zu verlieren. Dass sie zwei kleine Mädchen hatten, war mit ein Grund dafür. Es war ihm so wichtig gewesen, dass die beiden ihr stabiles Zuhause nicht verloren und sich keinem Risiko, keiner Unsicherheit ausgeliefert sahen.
Das hatte er gründlich vermasselt. Vielleicht hätte er seinen Mädchen besser die Fähigkeit mitgeben sollen, Dinge zu überstehen, zu überleben, stark zu sein. Vielleicht würde ihnen das jetzt mehr nützen, da sie gegen so böse Mächte kämpfen mussten. Er schloss die Augen. Nichts, was er tat, konnte die Vergangenheit ändern. Aber die Zukunft konnte er ändern. Vielleicht war es an der Zeit, seinen Töchtern zu zeigen, dass ihr alter Vater einiges über das Leben und den Krieg wusste. Er konnte nicht zaubern, aber sie würden gewiss überrascht sein, wenn sie feststellten, was er alles konnte.
Fünf
Blutstein
Kommt, ihr Deveraux, wir brauchen
Jeden, lebend oder tot
Oh Grüner Mann, wir bitten Euch
Gebt uns Mut, schenkt uns den Sieg
Wir stellen uns der Angst, o Göttin
Trocknen unsere Zornestränen
Gebt uns Kraft, dass wir obsiegen
Wenn wir Schleier mutig lüften
Salem, Massachusetts, am 29. Oktober 1692
Jonathan Deveraux erwachte mit einem Lächeln. Er konnte den Regen aufs Dach trommeln hören, und in der Ferne grollte unheilverkündender Donner. Ja, das würde ein prächtiger Tag werden.
Während er sich ankleidete, ließ er die Ereignisse der vergangenen Monate Revue passieren. Salem war ein ruhiges Städtchen gewesen, bis im Januar die Mädchen Elizabeth Parris und Abigail Williams behaupteten, es lebten Hexen unter ihnen. Halluzinationen, unerklärliche Anfälle und Visionen, die sie und andere Mädchen aus dem Ort plagten,
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