Hexenerbe
erinnerte sich einen Moment lang an kindliche Freude über die weiße Decke um das ganze Haus herum und die Hoffnung auf einen schulfreien Tag. Sein Vater, selbst ein mächtiger Hexer, hatte stets den Ruhm für diese freien Tage eingeheimst und seinem kleinen Sohn versichert, dass er allein den Schnee hatte vom Himmel fallen lassen, nur für ihn, Michael.
Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Die Deveraux hatten schon wesentlich mächtigere Zauber gewirkt, und das erst in jüngster Zeit.
Zu Beltane haben wir das Schwarze Feuer beschworen, rief er sich in Erinnerung. Ich bin davon ausgegangen, dass der Zauber deshalb endlich geklappt hat, weil wir drei zusammen waren, meine Söhne und ich. Aber seither ist es mir nicht wieder gelungen. Ich habe es wahrlich oft genug versucht und bin gescheitert ...
»Laurent«, rief er seinem Ahnherrn zu, »würdet Ihr mir ein wenig Gesellschaft leisten?«
Leichengestank kündigte das Erscheinen des großen Herzogs an, der zur Zeit des Massakers durch die Cahors das Oberhaupt der Familie Deveraux gewesen war. Laurent hatte in jener Nacht das Schwarze Feuer beschworen, und in dessen Flammen war Isabeau umgekommen. Endlich, vergangenes Jahr, als sich das Massaker zum sechshundertsten Mal gejährt hatte, hatte er Michael den Zauber verraten, mit dem man es heraufbeschwor. Und es hatte funktioniert.
Jetzt - nichts mehr.
Michael wusste nicht, ob Laurent etwas damit zu tun hatte, ob der geisterhafte Hexer den Zauber blockierte oder ihm irgendeine Art von Unterstützung entzogen hatte. Er wusste allerdings, dass Laurent genauso viel daran lag wie ihm, wieder einen Deveraux den Totenschädel-Thron in London besteigen zu sehen, wusste außerdem, dass es Laurent ziemlich gleichgültig war, ob dieser neue Herrscher Michael selbst oder einer seiner Söhne sein würde, oder sonst ein Deveraux, der vielleicht noch gar nicht geboren war. Die Zeit stand eindeutig auf der Seite des Phantoms, und Laurent war ein geduldiges und listiges Geschöpf - ganz anders als sein Sohn Jean, der so tollkühn und stürmisch gewesen war.
Michael sah zu, wie der Nebel um einen Umriss wirbelte, der langsam an Substanz gewann. Laurents Skelett erschien als Erstes, dann ein bisschen Muskel hier und da. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte Laurent Michael nur als verdorrter Leichnam erscheinen können. Doch inzwischen hatte er genug Lebensenergie gesammelt, um wieder in Gestalt eines lebhaften und sehr beeindruckenden Mannes auf Erden zu wandeln.
Und das tat er jetzt, in einer schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt unter einer schwarzen Lederjacke. Er hatte breite Schultern, war sehr muskulös und ragte über Michael auf, ganz Deveraux mit dunklem Haar, dunklen Augen und dunklem Bart. Belustigt blickte er auf seinen lebenden Nachfahren herab und sagte: »Du bist ganz allein in Seattle. Alle anderen sind nach London verschwunden, um die Königin zu besuchen.«
»Ja. Das Ganze ist lächerlich«, entgegnete Michael schmollend. »Ich verschwende hier nur meine Zeit ...«
Und dann verstummte er, als Laurent die Hände hob und zwei Mal klatschte.
In der Ferne verkündete der Schrei eines Bussards, dass Magie in der Luft lag.
Die silbrigen Wolken vor dem Mond trieben davon, und die Silhouette eines gewaltigen Vogels erschien vor der leuchtenden Scheibe. Sein Flügelschlag ließ den Schnee wirbeln und peitschte den Wind auf. Die Schwingen des riesigen, stolzen Geschöpfes hoben und senkten sich lautlos, während es sich der kleinen Dachterrasse näherte.
Auf seinem Rücken ritt Michaels Wichtel, der ihm den Fluch der Cahors enthüllt hatte - dass jene, die sie liebten, ertrinken mussten. Als der Wicht Michael entdeckte, riss er die Hände hoch und lachte sein irres Lachen. Seine Zähne blitzten im Mondlicht, und die spitzen Ohren standen wie zwei Federn fast senkrecht vom Kopf ab.
Der Vogel war Fantasme, das Geistertier der Deveraux. Als der Bussard auf die Aussichtsplattform zuschwebte, glitt der Wicht von seinem Rücken und landete auf der hölzernen Brüstung.
»Wo hast du gesteckt?«, fuhr Michael ihn an. Er hatte gedacht, das kleine Geschöpf sei unten in seiner Zauberkammer, wo es hingehörte.
»Holly Cathersss hat deinen Sssohn ausss dem Hauptquartier geholt«, sagte der Kobold. »Kein Jer Deveraux heut Abend, kein Schwarzesss Feuer.« Er rieb sich die Klauenhände, und sein abstoßendes, ledriges Gesicht war zu einem hämischen Feixen verzerrt. »Jetzt holen wir sssie zurück! Jetzt töten wir
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