Hexenerbe
sie neben die Tür. »Sie wird mich wahrscheinlich in eine Kröte verwandeln.« Das war scherzhaft gemeint, doch Silvana sah ihr an, dass sie tatsächlich Angst hatte. Und aus gutem Grund: Holly war nicht mehr das freundliche, sanfte Mädchen, das Silvana letztes Jahr kennengelernt hatte.
Sie trotteten ins Wohnzimmer und fanden Nicole auf dem Sofa vor, bequem an dicke Kissen gelehnt. Eine gehäkelte Wolldecke war um ihre Schultern geschlungen. Philippe saß neben ihr auf einem Fußschemel und hielt ihr einen dampfenden Becher hin.
Holly schaute zu den beiden herüber, als sie eintraten, und bei Karis Anblick schürzte sie verächtlich die Lippen. Silvana war wieder einmal enttäuscht von der Art, wie Holly mit Kari umging.
»Nicole«, sagte Silvana herzlich. »Wie geht es dir?«
Nicole verzog das Gesicht. »Kopfschmerzen. Aber ich lebe noch, also kann ich mich nicht beklagen.«
Philippe strich ihr über die Wange. »Grâce à Dieu«, murmelte er. Sie lächelte ihn zärtlich an, nahm ihm den Becher aus der Hand und nippte daran.
Kari blickte sich im Raum um und fragte: »Wo ist Jer?«
»Hat sich hingelegt«, erwiderte Holly frostig. »In meinem Zimmer.«
Herrgott, Holly, hab dich nicht so, ermahnte Silvana sie im Stillen. Laut sagte sie: »Es kann sein, dass uns da draußen etwas bemerkt hat.« Als sie Zorn in Hollys Augen aufblitzen sah, stockte ihr kurz der Atem. Dann reckte sie das Kinn und fügte hinzu: »Und wir haben Flügel schlagen gehört.«
»Großartig«, fauchte Holly. »Vielen Dank, Kari.«
Silvana trat einen Schritt vor.
Holly funkelte sie an.
»Kari hat viel durchgemacht. Das gilt für uns alle.«
Holly öffnete den Mund, um noch mehr zu sagen, doch Sasha trat zu ihr und legte ihr besänftigend eine Hand auf die Schulter. »Holly, warum nimmst du dir nicht auch von dem Tee, den Nicole gerade trinkt?«, schlug sie bestimmt vor. »Er wirkt sehr beruhigend. In der Küche stehen Becher.«
In eisigem Schweigen fuhr Holly herum und rauschte hinaus.
Sasha grinste die beiden anderen Mädchen entschuldigend an. »Sie ist sehr ... angespannt.«
»Was du nicht sagst«, brummte Silvana. »Das gibt ihr noch lange nicht das Recht, so gemein zu allen anderen zu sein.«
Sasha stieß langsam die Luft aus. »Nein. Allerdings hat sie dieses Recht, weil sie die Hohepriesterin unseres Covens ist.« Kaum hörbar fügte sie hinzu: »Leider.«
»Das glaube ich nicht«, beharrte Silvana. »Also, ich habe sie nicht gewählt, und ich sage ...«
Sasha hob die Hand. »Das stimmt. Wir haben sie nicht gewählt. Sie ist von Rechts wegen unsere Hohepriesterin. Sie könnte nicht einmal zurücktreten, wenn sie wollte. Das habt ihr ja gesehen. Also«, sie ließ leicht die Schultern kreisen, »hat sie ein paar Privilegien. Zu denen eben schlechte Manieren gehören.«
Kari verdrehte die Augen. Sasha drohte ihr mit erhobenem Zeigefinger und flüsterte leise: »Ich an deiner Stelle wäre ein bisschen vorsichtiger, wenn sie in der Nähe ist, Kari. Der Druck wird allmählich zu viel für sie. Und jetzt«, fuhr sie mit lauterer Stimme fort, »erzählt mir von dem Vogel.«
»Wir glauben, dass wir die Deveraux-Bussarde gehört haben«, begann Silvana. »Ich fürchte, wir sind alle in Gefahr.«
Kari nickte zustimmend. »In großer Gefahr«, sagte sie.
Michael Deveraux: Seattle
Michael stand auf der kleinen Aussichtsplattform auf dem Dach seines Hauses in Lower Queen Anne. Der Dezembernebel umschlang ihn und hielt sich an ihm fest wie eine liebeskranke Frau. Die nächtliche Feuchtigkeit glitzerte auf Spinnweben und umgab die Straßenlaternen mit einem unwirklichen Nimbus. Er stand da, lauschte der Nacht und fragte sich, was in London vor sich gehen mochte.
Ich sollte dort sein, dachte er frustriert. Ich bekomme hier nichts mit.
Er hatte die Runen befragt und in den Eingeweiden einer großen Zahl von Opfertieren gelesen, und alle Zeichen deuteten darauf hin, dass er in Seattle bleiben sollte. Aber hier ist nichts los. Alle sind in London, auch Holly Cathers. Und ich habe Sir William geschworen, sie umzubringen.
Er seufzte und nahm seine einsame Wanderung auf der kleinen Plattform wieder auf. Er war rastlos. Noch zwei Nächte bis zum Julfest, keiner seiner Söhne war zu Hause, und er selbst befand sich klar im Nachteil bei diesem Spiel, an dem alle teilhatten.
Wolken verhüllten den Mond und tauchten ihn in Dunkelheit. Es war kalt, und auf der Plattform lag Schnee. Die Luft roch frisch, und er schloss die Augen und
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