Hexenfluch: Roman (German Edition)
Moment erinnerte Kristen sich daran, dass er vorgab, ein unwissender Kunde zu sein, und nickte nur, während Lucretio eine Glaskugel von dem kleinen dunklen Tisch zu seiner Rechten nahm und zwischen ihnen in der Mitte der Glasplatte platzierte.
»Dann lass uns anfangen.« Er stellte die Holzfigur vor sich auf den Tisch, strich mit der Hand über die Kugel. In ihrem Inneren war plötzlich fahler Nebel, wand sich, drehte sich, waberte immer dichter, bis alles bleich gefüllt war.
Um ein Haar hätte Kristen jetzt doch abfällig den Mund verzogen. Wenn es den Bannfluch nicht geweckt und damit die Gefahr bestanden hätte, dass sie sich für die Gründe interessierte, hätte er das hier selbst getan. Was Lucretio abzog, war nicht mehr als Jahrmarktszauber. Billige Effekthascherei. Er hätte ihm auch ohne all das sagen können, was er wissen wollte. Allerdings wäre es dann deutlich weniger eindrucksvoll gewesen.
Mit einem übertriebenen Luftholen legte der junge Mann die Hände rechts und links neben dem hölzernen Nashorn auf die Tischplatte und bildete mit den Spitzen von Daumen und Zeigefingern ein Dreieck darum.
Im Inneren der Kugel löste sich der Nebel auf, machte Bildern Platz: die kleine Ärztin. Die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Aus dem sie das Band zog, noch während sie das Wohnzimmer betrat. Müde nach ihrer Schicht im Krankenhaus. Abend für Abend. Allein. Mal einfach vor dem Fernseher, mal mit einem Laptop auf dem Schoß oder irgendwelchen Akten und Fachbüchern, weil sie sich anscheinend Arbeit mit nach Hause genommen hatte.
Schließlich ein Mann. Mittelgroß. Schlank. Gutaussehend. Vielleicht einen Hauch zu elegant gekleidet, um wirklich zu der kleinen Ärztin zu passen. Charmant. Das übliche Geturtel. Lachen und Händchenhalten. Sie schien es zu genießen, einfach nur neben ihm zu sitzen, den Kopf gegen seine Schulter zu lehnen. Er war es, der irgendwann regelmäßig mehr wollte.
Ihm gegenüber lehnte Lucretio sich vor, als die beiden zum ersten Mal – absolut einfallslosen – Sex auf dem Wohnzimmertisch hatten. Kristen verzog unmerklich den Mund. Elende Kröte. Er würde später genau das bekommen, was er verdiente.
Und dann, immer wieder: heftige Wortwechsel. Das nächste Bild. Die kleine Ärztin kam offenbar direkt von der Arbeit, unübersehbar müde. Waren sie verabredet gewesen? Hatte er mit ihr ausgehen wollen? Und sie war zu spät? Weil sie noch im Krankenhaus aufgehalten worden war? Seine Vorwürfe eskalierten zum Streit. Bis er ging.
Und anscheinend nicht mehr wiederkam.
Die Männer, die nach ihm kamen, waren nicht besser. Nicht, dass der Plural tatsächlich gerechtfertigt war. Es waren gerade mal drei. Die kleine Ärztin führte mehr oder weniger das Leben einer Nonne. Alles wiederholte sich wie in einer Endlosschleife. Die Kerle sahen nur das Offensichtliche – und über sahen dabei all die Zwischentöne. Eine winzige Veränderung in ihrem Blick, der Art, wie sie den Kopf hielt, wie sie lächelte. Sogar wie sie sich kleidete. Eine Frau, die am späten Abend Jogginghosen und ausgebleichte T-Shirts trug, wollte nicht mehr ausgehen. Eine Frau, die einen Mann in ihre Küche einlud und ihm dabei das Gemüsemesser mit dem Griff voran entgegenhielt, wollte mit ziemlicher Sicherheit keinen Sex zwischen Paprika und Brokkoli. Und wenn eine Frau ›Nein‹ sagte, war das garantiert kein Code, der eigentlich ›Ja‹ bedeutete. Sie war wie ein offenes Buch. – Nur waren diese Typen komplette Analphabeten.
Und jedes Mal blieb seine kleine Ärztin allein zurück. Für Monate. Manchmal anscheinend sogar noch länger …
Als er zum ersten Mal sah, wie die Katze elegant zu ihr auf das Sofa sprang, hätte Kristen um ein Haar gelacht. Sieh an, sieh an. Die graugetigerte Bestie, der er die Kratzer zu verdanken hatte.
Irgendwann verblassten die Bilder. Kristen wartete nicht, bis sie endgültig vergangen waren, sondern stand auf, griff über die Kugel hinweg nach dem Nashorn und nickte Lucretio in der Andeutung eines Danke zu. Das Lächeln des jungen Mannes wirkte dünn, gezwungen. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Als Kristen sich der Treppe zuwandte, riss Lucretio sein Hemd ein Stück weiter auf. So als sei ihm … zu heiß. Schon Minuten nachdem er mit seinem Hokuspokus begonnen hatte, hatte er immer wieder beinah hektisch nach dem Champagnerglas gegriffen, hatte sich sogar noch zwei Mal nachgefüllt. Auf seiner blassen Brust begannen die ersten fahlblauen Flecken zu
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