Hexenfluch: Roman (German Edition)
Drei Schritte vor, einer zurück. »Ich will, dass Sie das, was ich Ihnen beibringe, irgendwann anwenden, ohne dass Sie sich dessen wirklich bewusst sind«, hatte er mehr als einmal gesagt.
Am Anfang der Woche hatte er ihr erklärt, wie sie eine ›Barriere‹ in ihrem Geist errichten konnte, um zu verhindern, dass eine unvermittelte Berührung ihre Gabe weckte und sich das wiederholte, was mit ihm in der Gasse geschehen war. Nur, um beim letzten Mal wieder zum Thema ›Fokus halten‹ zurückzukehren.
»Ab Montag muss ich wieder arbeiten«, teilte sie dem Raum vor sich blind mit.
»Das habe ich mir gedacht.«
»Uh …« Ella zuckte zurück. Er war direkt vor ihr.
»Deshalb will ich heute etwas mit Ihnen ausprobieren.« Jetzt kam seine Stimme von links. »Nehmen Sie das Tuch ab.«
Irgendwie hatte er es geschafft, eine Haarsträhne mit in den Knoten hineinzubinden. Entsprechend lange musste sie daran herumzerren, bis sie ihn offen hatte. Sie brauchte einen Moment, bevor sie wieder mehr als verschwommene Umrisse sehen konnte. Havreux war gerade dabei, den Couchtisch ein Stück beiseitezuschieben und den Sessel näher vor das Sofa zu rücken, als sie es endlich herunterzog. Sehr viel näher, um genau zu sein.
»Was wird das?«
»Der nächste Schritt. – Setzen Sie sich.«
»Und deshalb räumen Sie mein Wohnzimmer um?« Fast schon aus Gewohnheit ließ Ella sich in der Sofaecke nieder. Ihre Knie stießen gegen den Rand des Sessels.
»Ist alles ganz schnell wieder an Ort und Stelle. Versprochen.« Havreux musste über ihre Knie steigen, um sich ihr gegenüberzusetzen – ihre Beine zwischen seinen. So nah war er ihr noch nie gekommen.
Seine Brauen rutschten ganz leicht aufeinander zu. »Ziehen Sie Ihre Bluse aus!«
»Wie bitte?« Sie musste sich verhört haben.
»Sie haben unter der Bluse doch noch eines dieser Spaghetti-Shirts. Das heißt, Sie brauchen die Bluse nicht. Also bitte: Ausziehen!«
Ella blieb endgültig die Spucke weg. »Ich sehe nicht, warum …«, setzte sie scharf an. Und wurde von seinem plötzlichen, leisen Lachen zum Schweigen gebracht.
»Keine Sorge. Wenn ich Sie verführen wollte, würde ich das anders anstellen. – Ich will sehen, ob Ihre Barriere auch unter körperlichen Berührungen hält. Dazu muss ich Sie anfassen, ohne diesmal Ihre Gabe dabei von meiner Seite abzublocken, wie die ganze Zeit. Das ist alles.« Das Blut schoss ihr in die Wangen. Sie hätte nicht sagen können, warum. »Aber dabei hätte ich gerne etwas mehr Fläche als nur Ihre Hände und Unterarme.« Jetzt brannte ihr Gesicht endgültig. Dass er sich ganz offensichtlich darum bemühte, das verräterische Zucken in seinem Mundwinkel unter Kontrolle zu bekommen, machte es nicht besser. Den Blick stur auf ihre Finger gerichtet, schob sie die Knöpfe durch die Löcher. Warum zum Teufel zitterten ihre Hände?
Etwas umständlich streifte sie dann die Bluse ab und legte sie neben sich, holte einmal tief Luft. »Okay. Zufrieden?«
»Ja. Sehr.« Das Zucken war jetzt doch zu einem Lächeln geworden. Sein Blick glitt über sie. Die Arme hinauf, die Schultern, das Schlüsselbein nach vorne, hing eine Sekunde an ihrer Kehle, der Kuhle darunter, wanderte abwärts … Langsam … Wie eine … nicht existente Berührung. Die ihr trotzdem eine Gänsehaut verursachte, als striche er mit einem Eiswürfel über ihre Haut. Ihre Hand stahl sich über die Narben an ihrem Arm, hätte sich auch über die anderen gelegt, wenn sie alle gleichzeitig hätte erreichen, gleichzeitig hätte verbergen können. Narben, die eigentlich er hätte tragen müssen.
Sein Lächeln verblasste schlagartig. »Wenn Sie lernen würden, Ihre Gabe vollständig zu gebrauchen, könnten Sie sie verschwinden lassen, Ella.«
Sie wich seinen Augen eine Sekunde zu spät aus. Was sie darin gesehen hatte … Kein … Mitleid. Vielmehr Bedauern. Und ein … Versprechen. Sie wollte nur die Basics. Immer und immer wieder hatte sie es sich selbst gesagt. – Aber jedes Mal, wenn sie in der letzten Zeit vor dem Spiegel stand, hatte sich ihr immer häufiger die gleiche Frage aufgedrängt: Was wäre, wenn?
Sie hatte sie von sich geschoben. Doch mit jedem Tag, den Christian Havreux in ihr Haus gekommen war, war sie lauter geworden. Mit jedem Tag war etwas in ihr … erwacht: eine seltsame … Sehnsucht. Ohne dass es ihr zuerst selbst wirklich bewusst gewesen war. Vollkommen irrational. Und doch da. Sosehr sie sich dagegen sträubte.
Ella schüttelte den Kopf,
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