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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
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dort oben mit weit aufgerissenen Augen und suchte die Menge ab. Die ersten Flammenzungen leckten an ihren Füßen, und sie zuckte und zerrte an ihren Fesseln, um ihnen auszuweichen. Als das Feuer ihr dünnes Gewand entzündete und an ihrem Körper emporstieg, brüllte und schrie sie in tiefster Not.
    Pierre wandte sich ab. Um sich sah er entsetzte, verzerrte Gesichter. Und dann entdeckte er sie. Etwa zehn Schritte entfernt stand ein Mädchen, wohl wenige Jahre jünger als er selbst. Ihr Haupt war umrahmt von sanften Locken in der Farbe von Bernstein. Ihr Gesicht war weiß wie Marmor. Ihre blauen Augen waren groß und strahlend wie der Vollmond. Sie waren starr auf die brennende Frau gerichtet. Ihr eng geschnittenes Kleid, ockerfarben wie guter Ackerboden, ließ erkennen, wie weit der junge Körper auf dem Weg zur Frau war. Es schien, als wäre sie umgeben von einem Ring göttlicher Kraft. In dem dichten Gedränge stand sie allein. Aus irgendeinem Grund machten die Leute ihr Platz. So viel war gewiss: Sie war das schönste Geschöpf, das Pierre je in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte.
    Jemand stieß Pierre hart in den Rücken. Er strauchelte und musste mit ansehen, wie vier schwer bewaffnete Männer an ihm vorbei auf das wundervolle Geschöpf zugingen und es fortschleppten. Er wollte ihnen hinterherlaufen und das Mädchen befreien, doch er kam in der Menge nicht voran. Das Letzte, was er von dem Mädchen sah, war, dass die Männer sie in Richtung des merkwürdigen Turms eskortierten. »Verdammt!«, fluchte er. Weiter vorn sah er den Mönch, der zuvor bei der Hexe gewesen war. Auch er schien auf der Suche nach dem Mädchen zu sein. Kannte er sie etwa? Pierre beschloss, den Mönch nach dem Mädchen zu fragen, doch dieser war verschwunden.
    Pierre fühlte eine seltsame Art von Verzweiflung. Sein Herz schien zu bersten, sein Kopf dröhnte wie ein Amboss, auf den ein Schmied einen gewaltigen Hammer schlug. Er musste dem schönen Wesen helfen. Nur wie? »Was ist das für ein Turm?«, fragte Pierre einen schmächtigen Bauern und zeigte auf den düsteren Bau.
    »Das, mein Junge«, sagte der Bauer nicht ohne Stolz, »ist der Hexenturm von Rouen.«
    Pierres Herz schien auszusetzen. Er achtete nicht mehr
auf die Menschen um sich herum oder auf die Frau, die nun keinen Laut mehr von sich gab. Er dachte an das Mädchen, an den Hexenturm und daran, wie er sie befreien konnte.

    In der folgenden Nacht fand Pierre keinen Schlaf. Seine Gedanken waren erfüllt von der wundersamen Schönheit. Wie sie wohl heißt, fragte er sich. Er schlug die dünne Decke zurück und spähte umher. Magnus schlief in einem der drei Wagen. Pierre hörte ihn laut schnarchen. Er hatte sich mit Dünnbier und Wein voll laufen lassen und schlief nun seinen Rausch aus. Pierre war dies nur recht. So ließ Magnus ihm, Pierre, seinen Frieden. In einem anderen Wagen ruhten Agnès und der alte Bertrand, im dritten schlief Amicus. Nur er und die beiden Jacques’ mussten auf den gefrorenen Steinen des Marktplatzes übernachten.
    Ein eisiger Hauch streifte Pierre. Nein, er konnte nicht tatenlos hier liegen, während das Mädchen im Hexenturm gefangen war. Er musste etwas tun! Nur was? An die Tür klopfen und den Henker höflich fragen, ob er denn wohl das schöne Mädchen aus seinem Kerker ließe, kam kaum infrage. Sie gewaltsam zu befreien war ebenso abwegig. Er überlegte fieberhaft hin und her. Schließlich beschloss er, zum Hexenturm zu schleichen. Vielleicht kam ihm dort eine Idee. Zumindest war er so dem Mädchen nah.
    Auf leisen Sohlen stahl er sich davon. Quer über den menschenleeren Platz. Der frische Schnee reflektierte das Licht des Vollmonds, sodass er schnell vorankam. Vorbei an Kirche, Schusterei, Schmiede, Rathaus und dem jüdischen Viertel führte ihn sein Weg, bis er endlich die Burg sah. Von dort aus war der Hexenturm nicht zu verfehlen. Schwarz und mächtig stand er da wie ein riesiger Golem. Einem Katzenauge gleich drang schwacher Lichtschein durch ein Fenster. Dickes Mauerwerk verbarg jeden Laut.
    Je näher Pierre dem Hexenturm kam, desto monströser kam ihm das Gemäuer vor. Warum wurde ein so graziöses Wesen wie das schöne Mädchen in einem solchen Berg aus Stein eingekerkert? Er schüttelte den Kopf. Nein, sie musste hier heraus. Eile war geboten. Wer weiß, vielleicht klagt man sie morgen schon an, dachte er. Den Körper angespannt, zur Flucht bereit, schlich er vorwärts. Der Schnee knirschte unter seinen alten Lederstiefeln.
    Am Turm

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