Hexengericht
flog die Tür zum Gerichtssaal auf, und ein dünner alter Mann stürzte herein. Es dauerte eine Weile, bis man ihn bemerkte. »Die Pest! Die Pest hat Rouen erreicht! Hört ihr, Leute? Die Pest ist in unserer Stadt!«
Irgendwoher gellte ein Schrei: »Sie hat die Pest hierher gebracht! Die Hexe war es! Verbrennt sie! Verbrennt sie!«
Nun gab es kein Halten mehr. Die Menschen stürmten rücksichtslos zu der großen Tür und hinaus aus dem Gerichtsgebäude. Sie schlugen und bissen und trampelten über diejenigen hinweg, die zu Boden gestürzt waren.
Der Inquisitor war aufgesprungen. »Schafft sie fort!«, brüllte er erregt den Bütteln zu. »Sie wird morgen brennen!«
Am Abend desselben Tages schlich eine dunkle Gestalt durch die Gassen von Rouen. Die Straßen und Gassen, die Plätze und Viertel waren menschenleer. Die Pest bannte die Einwohner der Stadt in ihre Häuser. Nur ein paar herrenlose Hunde streunten durch den Schnee auf der Suche nach etwas zu fressen. Gut so. Je weniger Menschen, desto besser für den Plan. Es ging um Leben und Tod. Um das Leben des schönsten Mädchens der ganzen Welt!
Vorsichtig tastete Pierre nach dem Ledersack auf seinem Rücken. Kurz zuvor war es ihm gelungen, ihn aus dem Lager der Spielleute zu stehlen. Was er enthielt, war wichtig für seinen Plan.
Es gab sieben Schänken in Rouen. Drei lagen im Westen der Stadt, eine im Norden und drei im Süden. Er hielt sich gen Süden.
Die erste Schänke war geschlossen. Also, auf zur nächsten. Sie hieß Zum tapferen Ritter . Über der Tür klirrte ein verrostetes Schild im Wind, das einen Ritter in voller Rüstung auf einem Schlachtross zeigte. Drinnen fand Pierre den Wirt und eine alte Hure vor.
»Seid willkommen, junger Herr«, empfing ihn der schnauzbärtige Wirt lächelnd; offensichtlich erfreut darüber, endlich einen zahlenden Gast bewirten zu können.
»Habt Dank«, sagte Pierre und setzte sich an den Tresen.
Sogleich stand die Hure auf und ging zu Pierre. »Du musst ganz erfroren sein, mein Kleiner«, hauchte sie, und Pierre verschlug es den Atem. Aus ihrem Mund stank es faulig, und sie roch nach Schweiß wie ein Pferdeschmied. Ihr Kleid war alt und verdreckt, die Haare strähnig und an den Schläfen grau. Sanft strich sie mit ihren schmutzigen Fingern durch Pierres Haar.
»Ich warte auf einen guten Freund«, sagte Pierre schnell zum Wirt. »Er ist Knecht drüben im Hexenturm. Wisst Ihr, ob er gelegentlich bei Euch einkehrt?« Er lachte. »Er sagte, er würde in der Schänke auf mich warten. Aber er hat vergessen, mir zu sagen, in welcher.«
Der Wirt überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich muss Euch enttäuschen, junger Herr«, sagte er bedauernd. »Die Henkersknechte kehren niemals hier ein. Euer Freund ist wohl beim Barden. Folgt dieser Straße und haltet Euch dann beim Böttcher links. Es ist nicht zu verfehlen.«
»Habt herzlichen Dank, Herr Wirt«, sagte Pierre. Er versuchte, der Hure ein Lächeln zu schenken, und entschwand durch die Tür.
Der Barde war in der Tat nicht zu verfehlen. Schon von weitem hörte Pierre die Klänge einer Drehleier. Dazu sang eine hohe Stimme traurige Lieder. Über der Tür der Schänke des Barden hing ein Schild mit einer Laute. Pierre hatte erwartet, drinnen einige Gäste zu finden, die den Liedern des Barden lauschten. Aber da war niemand bis auf den großen blonden Minnesänger, der hinter dem Tresen stand und die Leier spielte.
Als der Barde den unerwarteten Gast sah, verstummte er keineswegs, sondern wob ein geträllertes »tretet ein, mein Gast sollt Ihr heut’ Abend sein, ich reiche Euch sogleich den Wein« in das Lied hinein.
Pierre hob lachend die Hand zum Gruß. Er nahm an einem der Tische in der Nähe der Tür Platz. Eine gemütliche Schänke, wie er fand. An den Wänden hingen Bärenfelle – Schmuck und Schutz vor der Kälte zugleich. Dazwischen verschiedene Instrumente. Eine Rotta aus England, ein schottischer Dudelsack, eine Schalmei aus dem Orient, ein spanisches Psalterium. In einer dunklen Ecke stand eine verstaubte Harfe.
Wie ein Geist stand plötzlich der Barde neben ihm. In den Händen einen Krug Wein und einen Becher. Unaufgefordert schenkte er Pierre ein. »Man nennt mich den Barden. Womit kann ich Euch dienen?«
»Etwas Käse, etwas Brot«, sagte Pierre.
»Etwas Käse, etwas Brot«, echote der Barde singend und tänzelte um den Tisch herum, »das schützt den Herrn vorm schwarzen Tod.«
Pierre lächelte gequält. Es brauchte keinen singenden
Weitere Kostenlose Bücher