Hexengericht
Rota«, sagte er. »Es ist mein Recht als Mönch, vor dem päpstlichen Gericht gehört zu werden.«
Wie ein Wolf, der zum Angriff übergeht, senkte Imbert den Kopf. »Recht? Du sprichst von Recht? Ein Ketzer und Gotteslästerer wie du hat keinerlei Rechte.«
»Ein Mörder wie du ebenfalls nicht!«, fuhr Raphael den Inquisitor an.
Es schien, als wollte Imbert Raphael den Hals umdrehen. Die Augen zu Schlitzen verengt, die Finger zuckend wie gierige Spinnenbeine, beugte er sich zu Raphael hinab. Den schauderte beim Blick in Imberts kalte, tote Augen. »Werft sie in den Kerker«, befahl Imbert den Wachen, ohne Raphael aus den Augen zu lassen.
Grob gepackt von mehreren Händen, wurden Raphael und Jeanne hinausgeschafft. Auf dem dunklen Gang legten vier Wachen Raphael in Ketten. Dann ging es über viele Treppen, über Flure, Hallen und Gänge durch den riesigen Palast. Hin und wieder schaute Raphael zu Jeanne hinüber. Er versuchte, ihr mit einem Lächeln Zuversicht zu schenken. Aber er stellte bald fest, dass er es war, dem es an Hoffnung fehlte. Jeanne war stolz und stark wie eh und je.
Durch eine Tür führten ihre Bewacher sie auf einen Innenhof. Raphael nahm an, es war der Cour d’Honneur, der den alten und den neuen Palast verband. In einigen Räumen über ihnen brannte Licht. Doch hier unten war es dunkel, und Raphael und Jeanne stolperten weiter.
Plötzlich hörte Raphael ein Geräusch! Es war nur schwer zu sagen, woher es kam. Ein leises Knarren, wie wenn eine Tür vorsichtig geöffnet wird. Offenbar hatten die Wachen durch ihre schweren Helme nichts gehört.
Dann brach das tödliche Unheil über die vier Männer herein. Wie vom Blitz getroffen fiel einer von ihnen Raphael vor die Füße. Dort blieb er regungslos liegen. Bevor seine Kameraden begriffen, was geschah, sank der zweite mit einem erstickten Schrei zu Boden. Raphael sah einen schwarzen Schemen, der wie ein Faun um sie herumzurasen schien.
Die zwei verbliebenen Wachen zückten ihr Schwert. Sie stachen wild in die Dunkelheit, ohne den Geist zu treffen. Der Faun hielt inne, holte zweimal aus und schleuderte etwas durch die Luft. Beide Männer fielen stöhnend zu Boden. Der Schemen eilte zu den Leichen und zog etwas aus ihrem Leib. Dann lief er zu Raphael und Jeanne. Seine geschickten Finger, die, wie Raphael erleichtert feststellte, aus Fleisch und Blut waren, lösten die Ketten von beiden Gefangenen. »Folgt mir«, flüsterte der Unbekannte. Seine Stimme war tief und warm. »Rasch!«
Raphael und Jeanne zögerten nicht. Gewiss hatte der Mann ihnen nicht das Leben gerettet, um sie anschließend in eine Falle zu locken.
So folgten sie der dunklen Gestalt über den Innenhof hinein in einen noch dunkleren Raum. Er hörte, wie ihr Retter eine weitere Tür öffnete, und schon ging es wie zuvor durch endlose Gänge. Schließlich klopfte der Mann dreimal an eine niedrige Tür mit einer vergitterten Sichtöffnung. »Wir sind da«, sagte der Unbekannte und trat in einen kleinen Raum. Nachdem Raphael und Jeanne eingetreten waren, schloss er die Tür und schob eine schwere Truhe davor.
Plötzlich löste sich ein Schatten von der Wand. Wie ein Geist schwebte eine Gestalt auf Raphael zu. Sie war etwa einen Kopf kleiner als er, und, soweit Raphael dies in der fahlen Dunkelheit sehen konnte, hatte sie langes Haar, das ihr bis über die Schultern fiel. Schon schlang der Geist seine Arme um Raphael. Sie fühlten sich warm an.
»Bruder Raphael!«, sagte das Wesen. Unendliche Erleichterung schwang in den Worten mit.
Diese Stimme, dachte Raphael. Woher kenne ich diese Stimme? Sie klingt wie … Nein, das ist nicht möglich! Kann es sein, dass …? »Luna?«, flüsterte er. »Luna, bist du das?«
»Ich bin es, Bruder Raphael«, flüsterte Luna zurück. »Ich bin es wirklich.«
Tränen der Freude und Erleichterung stiegen Raphael in die Augen. Er drückte Luna fest an seine Brust. »Mein Kind, ich dachte, du wärest …«
»Nein«, unterbrach sie. »Ich konnte mit der Hilfe meiner Freunde fliehen. Der Mann, der euch befreite, ist der starke und tapfere Amicus. Der Jüngling dort auf der Truhe heißt Pierre Lavalle.«
»Der nicht minder tapfer ist«, fügte Pierre hinzu.
Raphael stellte Jeanne vor. Er brauchte Luna nicht zu fragen, woher sie denn wusste, dass er in Avignon war. Wusste er doch um ihre Fähigkeiten.
»Wir müssen fort«, mahnte Amicus.
Sie öffneten eine Falltür und stiegen hinab in die Katakomben. Der Staub wirbelte unter den Schuhen der
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