Hexengericht
einen Schritt in den Raum gemacht, hätte er Luna, Raphael, Pierre, Jeanne und Amicus keine Armlänge von ihm entfernt auf dem Boden kauern sehen. Stattdessen schloss er die Tür wieder. Raphael sah, wie er mit seinen beiden Kumpanen zurück auf den Marktplatz lief. Ein weiterer Reiter wartete dort. Er sagte etwas zu den anderen. Es gab ein heftiges Wortgefecht, dann stiegen sie alle auf ihre Pferde und ritten davon.
»Das verstehe, wer will«, sagte Jeanne.
»Wir sind jetzt sicher«, sagte Luna. »Sie suchen auf der anderen Seite der Stadt nach uns. Wir gehen in die Berge und übernachten dort.«
»Moment, junge Dame«, sagte Jeanne und stand auf. »Ich verlasse diese Stadt nicht ohne Giacomo!«
Amicus stöhnte auf. »Nicht schon wieder.«
»Giacomo geschieht kein Leid, liebe Jeanne«, sagte Luna. »Du findest ihn wieder.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, protestierte Jeanne. »Wer sagt mir, dass sie ihm nicht schon längst den Kopf abgeschlagen haben?«
»Ich«, antwortete Luna.
Jeanne atmete tief durch und sah Raphael an. Der erwiderte ihren Blick mit einem Nicken und einem sanften Lächeln. »Also gut«, sagte Jeanne resigniert. »Brechen wir auf.«
Luna führte sie durch die schmalen Gassen von Nîmes. Der süßliche Leichengestank und der widerwärtige Geruch von Unrat und Exkrementen hing schwer in der Luft. Immer wieder kamen sie an Pesttoten vorbei. Man hatte die Leichen aufeinander geschichtet, um sie später zu verbrennen.
In einer Bäckerei und bei einem Metzger versorgten sie sich mit Vorräten, dann verließen sie die Stadt.
Inzwischen war es dunkel geworden, das bergige Hinterland von Nîmes war kaum mehr zu erkennen. Der Marsch durch die Nacht war beschwerlich. Er führte über Geröll, scharfe Felskanten und Vorsprünge. Der Halbmond schenkte den Flüchtenden nur wenig Licht. Amicus fluchte immerfort, Raphael stützte Jeanne, und Pierre achtete wie eine Glucke auf Luna.
Immer tiefer drangen sie in die Felsschluchten vor. Ab und zu wandte Raphael sich um und schaute zur Stadt zurück. Nur wenige Lichter waren in den kleinen Fenstern zu sehen. Einmal blitzte es am südlichen Rand von Nîmes auf, und innerhalb weniger Augenblicke erhob sich dort unten ein gewaltiger Flammenberg. »Sie verbrennen die Toten«, sagte
er.
Luna blieb stehen. »Nein«, sagte sie. »Sie verbrennen drei Menschen. Auf Imberts Geheiß. Als er merkte, dass wir entkommen sind, hat er diese armen Menschen seinen Zorn spüren lassen.«
Raphael sah Luna an. Das Feuer spiegelte sich auf ihren Wangen wider. »Werden wir ihn besiegen?«, flüsterte er, damit die anderen ihn nicht hörten.
»Sein Schicksal erfüllt sich jenseits von Montpellier«, flüsterte Luna zurück. »Ich kann es nicht sehen.«
Zuversichtlich lächelte Raphael ihr zu und strich über ihre Schulter. »Alles wird gut, mein Kind. Das verspreche ich dir.«
Ein schwaches Lächeln huschte über Lunas Gesicht. Dann wandte sie sich wieder den Bergen zu.
In einer tiefen Schlucht machten sie Halt. Die Stadt war nicht mehr zu sehen. Amicus warf seinen Beutel mit den Vorräten auf den nackten Fels. Er wartete nicht, sondern machte sich gleich darüber her.
Während Raphael, Pierre und Jeanne neben Amicus Platz nahmen, blieb Luna stehen. »Ich gehe zurück in die Stadt«, sagte sie.
Pierre sprang sogleich wieder auf. »Nein, das dürft Ihr nicht! Man nimmt Euch gefangen und verbrennt Euch noch in dieser Nacht!«
»Warum willst du zurück?«, fragte Raphael.
»Ich will die Taschen mit dem Geld holen«, antwortete Luna.
»Geld haben wir genug«, sagte Amicus kauend. Dabei klimperte er mit den Geldbeuteln, die sie Magnus, dem Schwertschlucker, gestohlen hatten.
Luna knetete ihre Finger und scharrte mit einem Fuß über den Felsboden. »Ich muss zurück«, sagte sie so leise, dass die anderen sie kaum verstanden. »Ich weiß nicht, warum, aber ich muss zurück in die Stadt und das Geld holen.«
»Dann komme ich mit Euch«, sagte Pierre.
»Nein«, sagte Luna. »Deine Fürsorge ehrt dich, lieber Pierre. Aber ich muss allein gehen.«
Resigniert setzte Pierre sich neben Amicus und versank in Nachdenken.
»Jeanne«, sagte Luna. »Begleite mich doch ein kleines Stück.«
Fragend blickte Jeanne Raphael an. Der nickte zustimmend, obwohl er nicht verstand, was Luna mit Jeanne vorhatte.
Gemeinsam verließen die beiden Frauen die Schlucht. Der Scheiterhaufen brannte noch immer lichterloh.
Luna hielt inne.
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte
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