Hexengericht
Jeanne.
»Horch«, sagte Luna nur. »Horch, Jeanne.«
Anfangs hörte Jeanne nichts. Nur den Wind, der durch die zerklüftete Berglandschaft zog. Dann war da ein leises Pochen, als fielen kleine Steine zu Boden. Das Geräusch kam näher, schneller und schneller, bis Jeanne Hufgetrappel heraushörte. Wie ein Sturm brauste etwas aus der Dunkelheit auf sie zu. Markerschütterndes Wiehern dröhnte durch die Finsternis. Laut und immer lauter. Wie ein Orkan, der durch die Berge fegte. Jeannes Finger verkrampften sich in ihrem Kleid. Und da erschien im fahlen Mondlicht der schwarz glänzende Leib eines Pferdes. »Giacomo! Giacomo!« Jeanne schrie den Namen wieder und wieder, während sie ihrem Hengst entgegenstürzte. Endlich war er wieder bei ihr. Sie warf sich um seinen Hals und küsste ihn wild auf die kleine Blesse zwischen seinen Augen. Tränen strömten über ihre Wangen. »Luna«, sagte sie. »Ich danke dir von ganzem Herzen.« Als keine Antwort kam, drehte sie sich um. Luna war fort. Jeanne versuchte noch, sie in der Dunkelheit auszumachen, aber kein Schemen und kein Schatten war zu sehen. So griff sie nach Giacomos Zügeln und ging zurück zu den Gefährten.
Raphael sah mit Freuden, dass Jeanne ihren geliebten Hengst wieder hatte. Er ging zu ihr und schloss seine Arme um ihre Schultern.
»Luna ist fort?«, fragte Pierre mit traurigen Augen.
Jeanne nickte und setzte sich neben Raphael auf einen Felsen. Amicus reichte ihr Wein und Brot. Er hatte ein Feuer gemacht, das knisternd und knackend Licht und Wärme spendete.
»Sie kommt wieder«, sagte Raphael, dem der junge Bursche Leid tat.
Amicus rülpste. »Ein merkwürdiges Mädchen.«
»Ihr werdet gewiss nicht schlau aus ihr«, sagte Raphael. »Sie ist ein Mensch, wie es nur wenige auf Gottes Acker gibt. Und die meisten von ihnen enden auf dem Scheiterhaufen.«
»Bruder Raphael«, sagte Pierre, »Ihr kanntet sie schon vor diesem … diesem …« Er suchte nach dem passenden Wort. »Schlamassel! Erzählt uns von ihr.«
Raphael lachte. »Dann gebt mir einen kräftigen Schluck Wein, damit sich meine Zunge lockert.« Jeanne gab ihm den Krug.
Pierre war schon ganz aufgeregt. »Nun?«
»Nun«, wiederholte Raphael, »es gäbe viel über sie zu erzählen oder auch nur sehr wenig. Ihre Mutter war eine arme, aber ungemein starke, tapfere Frau.«
»War?«, fragte Pierre.
»Ein Mönch hat sie ermordet«, antwortete Raphael. »Der Prior meines Klosters ließ sie verbrennen.«
»An dem Tag, als man Luna festgenommen hat?«, fragte Pierre weiter.
Raphael nickte.
»Ich war dabei«, sagte Pierre. »Ich habe gesehen, wie sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt ist und Luna fortgeschafft wurde.«
»Ich verstehe«, sagte Raphael. Jetzt wusste er, warum Pierre Luna beschützen wollte.
»War sie schon immer so … so … hm, so wie sie jetzt ist?«
»Du meinst ihre Fähigkeiten?«
Pierre nickte heftig.
»Nein«, sagte Raphael. »Noch vor wenigen Monaten war sie wie ein kleines Mädchen, das kaum mehr kannte als Haus und Hof. Ihre Prophezeiungen kamen selten und waren ungenau. Aber das hat sich in letzter Zeit geändert.« Er glaubte, dass dies mit den unwürdigen Geschehnissen bei Gericht zusammenhing, wollte dies jedoch nicht sagen.
»Ihr glaubt also an sie?«, fragte Pierre.
»Unbedingt.«
Da wandte sich Pierre an Amicus. »Du hörst es. Warum glaubst du nicht an sie? Warum nicht?«
»Sei nicht dumm, Pierre«, war Amicus’ ruhige Antwort.
Pierre fuhr auf. »Welches Wunder muss sie noch vollbringen, damit du ihr glaubst?«
Amicus schwieg beharrlich.
»Es ist nicht wichtig«, sagte Raphael, »dass er ihr glaubt. Er muss ihr nur vertrauen.«
»Sagt mir doch«, verlangte Amicus, »wenn sie hellsehen kann, warum hat sie dann seelenruhig in der Schänke gewartet, bis die Ritter kamen? Warum haben wir nicht vorher das Weite gesucht?«
»Sie hatte bestimmt ihre Gründe«, sagte Pierre. »Vielleicht sollten wir in die Berge fliehen, anstatt weiterzureiten. Vielleicht wäre sonst der Zeitplan nicht eingehalten worden. Es gibt tausend Gründe. Das heißt doch nicht, dass sie lügt. Bist du denn blind, Amicus?«
»Verdammt!«, rief Amicus und sprang auf. »Wer bist du, Pierre, dass du mir sagst, was ich glauben soll und was nicht? Wer seid Ihr, Bruder Raphael, dass Ihr mir sagt, wem ich vertrauen soll und wem nicht? Die Kirche verfolgt
Euch als Ketzer, und bisher habe ich keinen Beweis gesehen, der das Gegenteil bezeugt. Wer sagt mir, dass Ihr nicht wirklich ein Ketzer
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