Hexengericht
durchgelaufen ist.«
Raphael schaute auf die Sanduhr. Etwa ein Viertel ihres Inhalts war durch die kleine Öffnung in ihrer Mitte gerieselt. Auch die Lassbecken liefen langsam mit dunkelrotem Blut voll. Schweigend betete er.
»Sagt, Maître Dubocq, wo können wir für einige Stunden ruhen?«, fragte Jeanne.
Dubocq sah auf. »Ruhen? Wer hat gesagt, ihr könntet hier übernachten? Sucht euch gefälligst ein Gasthaus.«
»Wir zahlen für Eure Gastfreundschaft, Maître«, wandte Amicus ein.
»Also gut«, knurrte Dubocq. »Sucht euch eine Stelle im Keller.«
Amicus legte einen Arm um Jeannes Schultern. Aufmunternd lächelte er ihr zu. Zu Raphael gewandt, sagte er: »Ich lege mich schlafen.« Gemeinsam stiegen sie die Stufen in den kühlen Keller hinunter.
»Geh mit, Fernand«, sagte Raphael zu Pierre. Der reagierte nicht. Sein Blick blieb auf Luna geheftet. »Fernand!«, sagte Raphael lauter.
Nun sah Pierre auf. »Ja?«
»Geh schlafen.«
»Oh …«, Pierre schien wie aus einem Traum zu erwachen. »Ja, ja, ich denke, du hast Recht.« Ohne seinen Blick von Luna zu lösen, stieg er die Treppe hinunter.
Gleichzeitig fiel das letzte Sandkorn hinab. Dubocq stand ächzend auf und verband die Wunden an Lunas Arm und Kopf. Er nahm die vollen Lassbecken, stellte sie auf den Tisch und begutachtete das Blut. Hin und wieder murmelte er unverständliche Worte.
»Wie steht es um sie, Maître?«, fragte Raphael.
»Schlecht«, antwortete Dubocq.
Verärgert über die knappe Antwort, sagte Raphael: »Drückt Euch etwas genauer aus.«
»Was willst du sonst wissen?«, fragte Dubocq. »Du wirst kaum verstehen, wenn ich dir erkläre, was die Blutschau mir über die Schwere der Krankheit verrät.« Wieder starrte er in die Lassbecken.
So ein eingebildeter Patron, dachte Raphael. Vermutlich weiß er selbst nicht, was er da tut! Nur mit Mühe konnte Raphael seinen Ärger hinunterschlucken. Zu gern würde er Luna nehmen und das Haus dieses aufgeblasenen Quacksalbers verlassen. Aber der Medicus war Lunas einzige Hilfe. Vorerst.
Wieder murmelte Dubocq etwas Unverständliches. Er nahm die Lassbecken, zog die Vorhänge vor einem Fenster zurück und schüttete das Blut hinaus.
»Nun, was hat Euch die Blutschau verraten?«, fragte Raphael übertrieben freundlich.
»Dass ich sie schröpfen muss«, sagte Dubocq. Er nahm ein halbes Dutzend Schröpfköpfe aus dem Schrank, dann ritzte er mit einer dornigen Schröpfgeißel die zu behandelnden Stellen auf Brust, Bauch und Beinen, bis Blut aus den kleinen Schnitten trat. Zügig entzündete er ein kleines Holzscheit an einer Kerze, hielt es kurz unter einen Schröpfkopf und setzte diesen schnell auf eine der Wunden. Genauso verfuhr er mit den anderen Schröpfköpfen. Nach einer Weile zog Dubocq die Schröpfköpfe wieder ab. Sorgsam untersuchte er Blut und Wunden.
»Und nun?«, fragte Raphael.
»Ich muss sie brennen«, gab Dubocq zurück. Er verließ die Kammer. Als er zurückkehrte, hielt er ein spitz zulaufendes, rot glühendes Brenneisen in Händen. Langsam bewegte er es auf eine Geschwulst in Lunas Achselhöhle zu. Er zögerte kurz – und dann presste er das Eisen auf die Beule.
Luna schrie. Ihr Körper bäumte sich auf.
»Haltet ein!«, rief Raphael dem Medicus zu. »Ihr bringt sie um!«
Hochmütig sah der Arzt Raphael an. »Was weißt du schon von der Medizin? Nicht ich bringe sie um, sondern der schwarze Tod. Wenn dir meine Behandlung nicht zusagt, dann geh zu diesem jüdischen Quacksalber nach Montpellier. Es heißt, er heilt die Pest mit Kuhmist.« Dubocq lachte auf.
Raphael horchte auf. Luna hatte von Montpellier gesprochen. War dies der Hinweis, den sie benötigten? Vorerst entschied er sich abzuwarten. »Eure Methoden scheinen mir nutzlos zu sein«, sagte er. »Ihr Zustand verschlechtert sich noch.«
»Die Genesung braucht ihre Zeit«, verteidigte sich Dubocq. »Die Säfte müssen untereinander einen Ausgleich schaffen. Besonders der Schleim und die gelbe Galle sind mit höchst anspruchsvoller Gelehrsamkeit zu behandeln. Denn nur sie können die schwarze Galle in das Gleichgewicht zurückdrängen.«
Raphael war mit der Lehre der Säfte vertraut, und so beschlich ihn das Gefühl, der Medicus wolle mit seinen aufwändigen Behandlungen nur ein möglichst hohes Honorar erzielen. »Wir warten bis zum Morgengrauen, ob sich Besserung einstellt«, sagte er schließlich.
»Hast du nicht gehört, was ich über die Säfte gesagt habe?«, entgegnete Dubocq.
»Ihr vergesst die Lehre
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