Hexengericht
konnte Luna sich von Juda lösen. Den Blick auf ihn gerichtet, stieg sie auf ihr Pferd. Die Freunde folgten ihrem Beispiel.
»Auf Wiedersehen, Maître«, sagte Raphael. Er schnalzte mit der Zunge, und sein Pferd setzte sich in Bewegung.
»Lebt wohl«, rief Juda. Wie bei einer Parade ritten sie feierlich an ihm vorbei hinaus in die Gasse. Dann waren sie verschwunden.
Juda schaute zu den Bäumen hinauf, wo Kohlmeisen nisteten. In der Krone der von Amicus so geliebten Kastanie saß ein hässlicher Rabe, der ihn unentwegt anstarrte. Juda hob einen Ast vom Boden und warf ihn nach dem Vogel. Der Ast flog vorbei, und der Rabe schien ihn krächzend zu verlachen.
Schließlich ging Juda zurück in sein Haus. Er war müde, sein Gang war schleppend. Oben in seiner Kammer öffnete er erneut die alte Truhe. Zum Vorschein kamen ein Kleid seiner Frau und eine winzige Hose nebst Hemdchen, die sein Sohn als Säugling getragen hatte. Er presste die Sachen an sein Gesicht. Noch immer steckte in ihnen der Geruch seiner Liebsten. So kniete er in stiller Trauer und sehnsüchtiger Erwartung vor der Truhe.
Die Zeit verstrich. Längst stand die Sonne hoch am Himmel. »Es ist so weit«, murmelte Juda. Er verstaute die Kleidungsstücke und ging hinunter in sein Laboratorium. Dort nahm er zwei große, irdene Grapen, die mit einem dicken Pfropfen verschlossen waren. Nacheinander schaffte er sie in die Bibliothek. Er zog die Pfropfen heraus. Beißender Geruch strömte aus und drang in seine Nase. Er nahm eine Kelle, tauchte sie in eines der Gefäße und versprengte die Flüssigkeit über Boden, Wände, Regale und Bücher. Als die Grapen leer waren, war die Bibliothek erfüllt von betäubenden Dämpfen.
Achtlos warf er die Kelle fort, nahm eine Kerze und hielt sie an eines der Bücher. Sofort sprang die Lohe über und züngelte am Regal entlang. Die Flammen erreichten das nächste Regal, fraßen sich in Windeseile über die Dielen zur gegenüberliegenden Wand, und bald stand die ganze Bibliothek in Flammen.
Juda ging hinaus, warf die Tür zu und setzte sich in die Küche. Dort schenkte er Wein in ein großes, grün schimmerndes Glas. Zug um Zug trank er es leer. Eine Zeit lang starrte er vor sich hin. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet. Dann klatschte er in die Hände und ging langsam auf die große Tür am Ende des Flurs zu. Er hielt kurz inne, legte eine Hand auf den Griff – und zog die Tür auf. Dort stand der Mann, den er erwartet hatte.
Imbert.
»Tu, was du tun musst, und dann verschwinde aus meinem Haus«, sagte Juda.
Imbert schien kurz unschlüssig, doch dann griff er Juda mit einer Hand am Kragen und stieß ihm mit der anderen ein Messer in den Hals. Ein Blutschwall ergoss sich über Imberts Habit. Er ließ von Juda ab, und der Medicus brach röchelnd zusammen.
Imbert achtete nicht weiter auf den Sterbenden. Er sprang über dessen gekrümmten Körper hinweg und rannte in das Haus. Er suchte seine Beute in allen Räumen, riss die Tür zur Küche auf, schaute in den Keller, riss jeden Vorhang und jeden Wandteppich herunter, als könnten die Gesuchten in verborgenen Nischen hocken. Als er die Tür zur Bibliothek öffnete, schlugen ihm Flammen entgegen. Er eilte die Treppe hinauf und durchsuchte die Zimmer, aber er fand niemanden mehr vor. Die Ketzer mussten längst geflohen sein. Wutentbrannt verließ er das Haus und stieg auf sein Pferd. Er trat dem Tier so kräftig in die Flanken, dass dickes Blut aus den Wunden quoll.
Währenddessen griffen die Flammen auf die übrigen Räume und Kammern des Hauses über. Noch am späten Abend tauchte das Feuer die Umgebung in ein grell zuckendes Licht. Niemand eilte herbei, um zu helfen. Erst am nächsten Morgen fanden die Flammen keine Nahrung mehr. Zurück blieben verkohltes Balkenwerk und die verbrannte Leiche Juda ben Zekharya ibn Tibbons.
Angriff bei Nacht
E inige Stunden nach ihrer Flucht aus Montpellier legten sie zum ersten Mal eine Rast ein. Bisher waren sie durch waldreiches Gebiet geritten, und so stiegen sie, von Bäumen geschützt, auf einer kleinen Lichtung von den Pferden. Es war ein schöner Ort, erfüllt von harzigen und blumigen Düften und dem fröhlichen Zwitschern der Vögel in den Wipfeln.
Amicus setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm. »Wir haben kein Wasser.«
»Und kein Brot«, ergänzte Luna. Sie hockte im knöchelhohen Gras und pflückte Gänseblümchen.
In der Tat, dachte Raphael. Wie hatten sie derart Notwendiges vergessen können? Er ging zu
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