Hexengift
Unterarme, Ellbogen und Bizeps faserten auf und wurden weggeblasen wie Rauchschwaden. Er drehte den Kopf zu Zealand und öffnete den Mund wie zu einer letzten Entschuldigung oder einem Versprechen, dann war auch sein Kopf weg, dann sein Körper, und Zealand war allein zwischen Himmel und Erde. »Nein!«, brüllte er aus vollem Hals, aber der Wind riss seinen Schrei einfach mit sich. Austen hatte recht gehabt. Er hatte nicht genug eigene Substanz, um außerhalb von Genevieves Palast zu existieren.
Und während er fiel, so unglaublich lange fiel, fragte Zealand sich, was wohl mit ihm passieren würde. Konnte Reave Genevieve dazu zwingen, ihm das Moos, das seine Wunden geheilt hatte, wieder zu entziehen? Würde er dann an den Stichwunden in seinem Rücken sterben? Machte das überhaupt einen Unterschied? Oder würde er ohnehin zerschmettert werden, falls er irgendwann auf dem Boden aufschlug?
Er landete im Wasser. Aus dieser Höhe hätte der Aufprall so hart sein müssen wie auf Beton, aber Zealand spürte lediglich einen Schmerz wie bei einem Bauchklatscher im öffentlichen Schwimmbad - nur dass das Wasser unglaublich kalt war. Das Moos verteilte sich sofort über seinen Körper und schützte ihn vor der schlimmsten Kälte; Zealand begann zu strampeln wie ein Ertrinkender und stieg an die Oberfläche. Er sah sich um, blinzelte das Wasser aus den Augen und versuchte, sich zu orientieren. Die Stadt dort an
der Küste, war das Felport? In dem Schneetreiben war das schwer zu erkennen.
Neben ihm tauchte plötzlich ein blondes Surfer-Mädchen in einem blauen Neoprenanzug auf. »Sie sind ja ganz grün«, sagte sie.
Zealand starrte sie an, dann musste er lachen. »Ja, das bin ich. Aber ist es nicht ein bisschen kalt zum Surfen?«
Das Mädchen zuckte mit den Achseln. Ein Surfbrett war weit und breit nicht zu sehen. »Ich komme schon zurecht.«
Zealand räusperte sich, während das Moos seinen Körper die nötigen Bewegungen von ganz allein ausführen ließ. Er konnte völlig entspannt an der Wasseroberfläche bleiben. »Sind Sie eine Art … Hexe?
»Ich bin die Buchthexe. Und das ist meine Bucht. Ich wurde auf Sie aufmerksam, als Sie in meine Gewässer fielen. Ich konnte nicht sehen, woher Sie gekommen sind.«
»Ja, klar.« Es war reichlich bizarr, einen halben Kilometer vor der Küste im eiskalten Wasser der winterlichen Bucht von Felport eine derartig höfliche Unterhaltung zu führen. »Marla Mason hat mir von Ihnen erzählt.« Er beschloss, ein bisschen zu improvisieren. »Sie scheint eine recht hohe Meinung von Ihnen zu haben.«
»Sie kennen Marla?«
»Ich stehe ihr bei den momentanen Unannehmlichkeiten ein wenig zur Seite, ja.«
»Sie sprechen von der Frau, die schlecht träumt. Aber was machen Sie eigentlich in meiner Bucht?«
»Ich bin hineingefallen. Aus einer anderen Welt, und dann hier gelandet.«
»Glück gehabt. Sie hätten auch in einem Stacheldrahtzaun landen können.«
»In der Tat. Ich werde meinem Schutzengel auf ewig dankbar sein. Aber jetzt muss ich langsam mal an Land.«
»Nicht besonders angenehm dort im Moment«, erwiderte die Hexe. »Monster treiben sich auf den Straßen herum. Ich habe sie gesehen, als ich näher heranschwamm. Und Horden von Männern mit einem schattenhaften Gesicht. Es heißt, Marla hätte versagt, und jetzt stehen wir alle am Rande des Untergangs.« Sie schüttelte den Kopf. »Finstere Kreaturen treiben sich hier im Wasser herum. Ich versuche, sie zu vernichten, aber es kommen immer mehr, aus Höhlen, die heute Mittag noch gar nicht da waren. Ich muss zurück. Sagen Sie Marla, dass ich mein Bestes tue, um die Bucht zu retten.«
»Das werde ich«, erwiderte Zealand, dann tauchte sie ab unter die Wellen. Zealand schwamm auf die Küste zu. Wenn er Reaves Männern begegnen sollte, würde er gegen sie kämpfen, und falls Genevieve entführt worden war, dann würde er sie eben retten. Was sollte er auch sonst tun? Er hatte seine Seite gewählt, und er würde sich jedes Mal wieder so entscheiden. Und wenn Marla ihm half, umso besser.
»Rondeau, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, sagte Marla. Sie saß an der Bar und nippte an einem dünnen Wodka-Tonic. Sie konnte es sich nicht leisten, sich zu betrinken, aber nüchtern hätte sie die Situation einfach nicht ertragen. Der Umhang hatte ihre Verbrennungen wieder geheilt, aber die schreckliche Erinnerung an die Schmerzen blieb. Sie war noch nie lichterloh in Flammen gestanden,
und die Erfahrung gehörte wahrscheinlich
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