Hexenhammer: Historischer Roman (German Edition)
bis dahin noch nie hinausgekommen. Was er da draußen sah, erschreckte und verstörte ihn zutiefst. Da wurde geflucht, gesoffen, gehurt, geschlagen, betrogen und gelogen, gestohlen, geraubt und gemordet. Er glaubte in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele zu blicken und war sich sicher, dass eine derart verlotterte Gesellschaft nur zum Untergang verdammt sein konnte.
»Ein Laie geht zur Buhlerin, ein Stadtpriester sucht Reichtum und Macht, ein Mönch aber strebt nach Wissen und Erkenntnis!«
Gerade aber was die Mönche anbetraf, sah es auch in manchen Klöstern nicht viel besser aus.
Von den drei allgemein gültigen Ordensregeln Armut, Keuschheit und Gehorsam war oftmals nicht mehr viel übrig geblieben. Gelder aus dem Ablasshandel wurden in die eigene Tasche geschoben, betrunkene Brüder torkelten schon am helllichten Vormittag über die Gänge, zotige Witze wurden lautstark wiedergegeben, in den gemischten Klöstern sah er mehr als einmal nachts Nonnen aus Mönchszellen huschen und aus einem Konvent floh er verschreckt, als die Mönche dem Prior Prügel angedroht hatten.
Es gab viele, die in ein Kloster gezwungen wurden oder nur deshalb in einen Orden eintraten, um sich ein bequemes und sorgenfreies Leben zu sichern, ohne sich weiter um irgendwelche Gelübde zu scheren.
Nach einem Jahr hatte er immer noch nicht das gefunden, was er suchte. Man schrieb bereits Anfang 1402, als er in einem Dominikanerkonvent von einem Kloster in Colmar im Elsaß hörte, das durch einen gewissen Konrad von Preußen reformiert und mit eisernem Besen ausgekehrt worden sei. Obwohl sich nicht wenige der Mönche offen über ihn lustig machten, zögerte Johannes Nider keinen Augenblick und schulterte sein Bündel.
Es war im April, als er in Colmar ankam und an die Klosterpforte pochte. Bereits nach ein paar Tagen wusste er, dass er am Ort seiner Bestimmung angekommen war.
Hier herrschte die strikte Befolgung der Augustinusregel und der Ordenskonstitution, was freiwillige Armut, den Verzicht auf persönlichen Besitz und auf feste Einkünfte der klösterlichen Gemeinschaft bedeutete. Der Tagesablauf orientierte sich an dem Bemühen um spirituelle und geistige Vervollkommnung und ging mit der Suche nach Erkenntnis und Wissen einher. Nach dem im Dominikanerorden vorgeschriebenen einjährigen Noviziat legte Johannes Nider im folgenden Frühjahr seine ersten Ordensgelübde ab.
Von nun an ging es für Bruder Johannes steil bergauf. Bereits im folgenden Jahr schickten ihn seine Ordensoberen durch vier Diözesen nach Worms, wo er vom dortigen Bischof Eckhard von Dersch die niederen Weihen erhielt.
Weitere Stationen waren Köln und Konstanz, wo er ein philosophisch-theologisches Grundstudium absolvierte, das drei Jahre Philosophie, drei Jahre Naturwissenschaften und drei Jahre Theologie beinhaltete. 1422 wurde er von seinem Ordensgeneral Leonardo Dati nach Wien versetzt, wo er pro forma et gradu magisterii studieren sollte. Nach insgesamt sechs Jahren Studiums der Theologie promovierte er 1425 in Wien zum Doktor und wurde kurz darauf als Professor an die Universität berufen. Seine akademischen Titel kamen ihm jedoch wie Verfehlungen gegen den Heiligen Geist vor, sie waren in seinen Augen eitle und hoffärtige Überhebungen und widersprachen zutiefst seinen Vorstellungen von Demut und Bescheidenheit.
»Tragt mich ohne Titel nur als Johannes Nider ein«, bat er den Schreiber des Schulverzeichnisses, der ihn daraufhin verwundert ansah. Auch seinen Schülern befahl er, ihn wie einen einfachen Bruder zu behandeln, und wäre sein Alter nicht gewesen, wäre er wahrscheinlich als Letzter in der Bibliothek bemerkt worden, wo er trotz seiner Beleibtheit auf einer schmalen, harten Bank saß und sich demütig vor seinen Studiosi verneigte. Einer von ihnen, den er zur Erörterung einer theologischen Frage zu sich in die Zelle gebeten hatte, berichtete den anderen staunend, dass selbst die Kammer jedes einfachen Mönches besser ausgestattet sei als die ihres hoch angesehenen und berühmten Lehrers.
Gerne hätte Bruder Johannes auch noch ein medizinisches Studium begonnen, was ihm aber durch die Ordensregeln verwehrt war. Er fand jedoch nichts in den Statuten, die ihm eine Beschäftigung mit solchen Fragen verboten hätte. So ausführlich es ging, befasste er sich mit der Säftelehre von Galen, die wiederum auf den antiken Lehren des Hippokrates und Aristoteles beruhte.
Danach bestand die Erde aus den vier Elementen Wasser, Erde, Luft und
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