Hexenheide
hüpft durch die Halle.
»Leise!«, faucht Karim. Im selben Moment fallen ihm die Gemälde auf, die entlang einer breiten Treppe, die nach oben führt, an der Wand hängen. »Also da sind sie.«
»Wer?«, schreckt Lenne auf und unterbricht ihr Spiel.
»Die Vorfahren, von denen deine Mutter gesprochen hat. Die Frau will doch ein Porträt von sich haben, damit sie ihre ganze Familie in Ölfarbe an der Wand hängen hat. Na, und hier ist sie.« Er guckt kurz über die Schulter zu der Tür, hinter der die vornehme Dame noch immer in ihrem Salon Modell sitzt, und schleicht dann zur Treppe. »Johannes van Have, 1885«, liest er vor, »hässlicher Kerl.« Er steigt noch ein paar Stufen höher. »Elisabeth van Have-Oldert, Jahreszahl unlesbar.«
»Auch achtzehnhundert noch was«, meint Lenne.
»Und der hier, der ist schon von 1767!«
»Je höher du kommst, desto älter die Bilder. Die hängen der Reihenfolge nach.«
»1620«, liest Karim eine Unterschrift, bevor er das Bild selbst betrachtet. »Der Bilderrahmen ist aber nicht besonders schön.« Sein Blick wandert nach oben – und er sieht in ein Gesicht, das ihm irgendwie bekannt vorkommt. Er tritt etwas zurück und prallt gegen Lenne.
»Au!«, schnauzt Lenne. »Meine Zehen! Was ist denn? Wonach guckst du?«
»Das Gesicht … die roten Haare … die Frau gleicht total …« Er schluckt und spricht den Satz nicht zu Ende.
»Wie zwei Tropfen Wasser«, ist alles, was Lenne sagt. Fassungslos lehnt sie sich gegen Karim und starrt über seine Schulter hinweg auf das Porträt. »Sie gleicht ihr nicht, das ist sie!«
»Das kann nicht sein.« Karim räuspert sich. »Ich meine, das kann natürlich nicht … das ist unmöglich. Aber man könnte schon sagen, dass sie Verwandte sind.«
»Ich hab wohl schon von Familienähnlichkeit gehört«, sagt Lenne leise, »zum Beispiel heißt es, dass ich meiner Großmutter total ähnlich bin. Aber Familienähnlichkeiten, die jahrhundertelang bestehen bleiben – das kommt mir ziemlich seltsam vor.«
»Aber es ist dasselbe Gesicht, es ist einfach dasselbe Gesicht.« Karim liest den Namen, der darunter steht. »Ermelinde van Hove.«
»Have«, verbessert Lenne.
»Das sieht hier wie ein o aus.«
»V an Have, van Hove, was macht dass schon aus«, meint Lenne. »Namen werden im Lauf der Zeit sicher mal verändert. Aber die Frau da, die im Salon auf dem Stuhl sitzt, gleicht überhaupt nicht der schönen rothaarigen Frau, aber auch nicht das kleinste bisschen.«
»V ielleicht ist die gnädige Frau Rumpelpumpel nur angeheiratet, früher mal, mit dem ältesten Sohn oder mit dem einzigen Sohn. Und jetzt ist er tot, und sie hat den ganzen Kram geerbt.«
»Also da tut sie so vornehm, obwohl sie hier gar nicht hingehört?«
»Natürlich gehört sie hier hin. Nur diese ganze Reihe hier«, Karim zeigt auf die Ahnengalerie, »das sind vielleicht gar nicht ihre Vorfahren, sondern die von ihrem Mann.«
Hinter ihnen in der Halle geht eine Tür auf. »Lenne?« Marits Stimme hallt durch den hohen Raum.
»Hier«, sagt Lenne und läuft schnell die Treppe hinunter. Aber sie geht an ihrer Mutter vorbei und ohne weitere Förmlichkeiten in den Salon. »Ist es was geworden?« Sie wirft einen Blick auf die Staffelei und die Leinwand, wo nur ein paar Striche und Farbflecke zu sehen sind.
»Das sind bloß die ersten Ansätze!«, ruft Marit und zieht Lenne schnell von dem Porträt im Anfangsstadium weg. »Nicht anfassen!«
»Mach ich doch gar nicht.« Lenne späht an der Leinwand vorbei zu der alten Dame auf dem Stuhl, die sich mit einer warmen Jacke abmüht. Vom langen Stillsitzen war ihr wohl kalt geworden. Der Ofen ist offenbar nicht an. »Es sieht ihr ja gar nicht ähnlich.«
Marit seufzt »Das geht dich nichts an, du Besserwisser.«
Lenne macht ein paar Schritte nach vorne und betrachtet kurz das Gesicht der alten Dame. »Sagen Sie«, fragt sie dann, »wer ist Ermelinde van Hove … van Have … oder wie sie heißt … eines von den Bildern oben an der Treppe? Rotes Haar mit lauter Locken auf dem Kopf und einem Haarknoten, wie Sie ihn auch haben, nur schöner?«
Die alte Dame blickt ungehalten zu ihr auf.
»Sie hat so ein altmodisches Kleid an mit weißer Spitze um den Hals, und vorne dran etwas Teures, eine Anstecknadel oder ein Medaillon, das ist wahrscheinlich aus Gold. Und sie sieht sehr vornehm aus«, plappert Lenne weiter. »Ermelinde heißt sie und hat 1620 gelebt.«
»Was willst du denn eigentlich wissen, Kind? Wie man hören kann, weißt
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