Hexenheide
unserer Tränke, Salben und magischen Rituale. Aber jetzt erzähle ich dir mal was Verrücktes: Auf Dauer schlägt die Langeweile zu. Kannst du dir das vorstellen, dass man nach Hunderten von Jahren eines Hexenlebens die alltäglichen Dinge letztendlich einfach satt hat? Meistens entscheiden sich die Hexen zum Austreten, wenn eine gewisse Zeit verstrichen ist, eine sehr lange Zeit allerdings.«
»Was bedeutet Austreten?«
»Keine Hexe mehr zu sein. Du kannst als Hexe sehr viele Dinge nicht, die Sterbliche sehr wohl können.«
Karim sieht erstaunt aus. Hexen können doch bestimmt alles, was Menschen können, und noch viel mehr. »Was denn zum Beispiel?«
»Sich verlieben, Kinder kriegen, unter Menschen wohnen, ein normales Leben führen, in der Sonne sitzen und den Tag mit herrlichem Nichtstun verbummeln.« Erin lächelt.
»Warum könnt ihr nicht rumbummeln und nicht nichts tun?«
»Wir müssen jeden Tag unsere Rituale durchführen. Manche brauchen sehr viel Zeit. Wir brauchen bestimmte Kräuter und Früchte. Die müssen wir sammeln oder selbst anbauen, denn wir können ja keinen Einkaufskorb nehmen und in den nächsten Laden gehen, um sie dort zu kaufen. Hast du schon mal Siebenblatt im Supermarkt liegen sehen oder Vogelwicke oder Birkenrinde? Kennst du einen Gemüsehändler, der giftige Pilze verkauft? Wir müssen Tränke und Salben zubereiten – und das immer zur richtigen Stunde am Tag oder beim richtigen Stand des Mondes.« Erin beugt sich vor und sieht Karim mit einem Lächeln in den Mundwinkeln an. »Eine Hexe zu sein ist schwere Arbeit, mein Junge!«
»Oh«, sagt Karim schüchtern, »darüber hab ich nie nachgedacht.«
»Aber auszutreten, damit aufzuhören, eine Hexe zu sein, bedeutet, wieder eine normale Sterbliche zu werden, und das ist auch nicht so leicht.«
»Und keine von euch will das?«
»Ach doch, ich denke, dass ich sie auf Dauer wohl auch aufgeben werde, die Existenz als Hexe. Und Alba hat eigentlich auch schon lange genug davon. Darum will sie eine Nachfolgerin. Sie will all ihr Wissen weitergeben. Hexen sind wirklich kein Haufen ekeliger Zauberinnen, Hexen sind vor allem weise alte Frauen. Hast du das gewusst? Sie wissen alles über die Natur. Sie leben schon so lange, dass sie den Menschen mit all seinen Gebrechen haben studieren können. Wir streifen viel in der Menschenwelt umher, sehen hin, hören zu und versuchen zu verstehen.«
»Ich hab euch sonst noch nie herumstreifen sehen«, sagt Karim. »Na ja, seit Kurzem habe ich dich und Alba ab und zu gesehen, aber vorher noch nie.«
»Nicht in Menschengestalt.«
Karim schlägt sich an die Stirn. »Ach, natürlich.«
Erin lacht. »Katzen fallen nicht so auf.«
»Also will Alba Lenne als Nachfolgerin?«
Erin nickt. »So jemand muss sehr sorgfältig ausgewählt werden. Lenne ist mutig, eigenwillig und stark.«
»Und Vita will Rinnie als Nachfolgerin?«
»Absolut nicht! Vita hat nicht vor, ihr Hexenleben jemals aufzugeben. Vita will Anhänger, keine Nachfolger! Vita will ihr Hexenreich ausbreiten, sie will Macht, sie will Sklaven, die sie verehren, junge Hexen, die alles tun, was sie ihnen aufträgt. Sie hat auch keine große Lust mehr, ihre täglichen Rituale durchzuführen, aber anstatt das Hexenleben aufzugeben, will sie lieber, dass andere ihre Rituale für sie durchführen, ihre Tränke zubereiten und sie versorgen. Am liebsten würde sie als Königin auf einem Thron sitzen und Befehle erteilen. Sie hat das schon häufiger versucht …« Erin verfällt in Schweigen.
»Mit dir?«
»Unter anderem. Aber ich gehöre zu sehr zu Alba. Vita hat ziemlich schnell mitbekommen, dass sie bei mir nichts zu melden hat. Daher hat sie es dann auf ziemlich junge Mädchen abgesehen, die sind leichter zu beeinflussen.«
»Was meinst du mit unter anderem ? Hat es noch mehr gegeben?«
Erin schlägt die Augen nieder.
»Was ist mit ihnen passiert?«
»V itas Versuch ist misslungen, weil Alba und ich uns eingemischt haben. Das hätten wir besser nicht getan.«
Karim traut sich nicht zu fragen. Er schaut Erin nur abwartend an.
»Das ist schon mehr als hundert Jahre her, aber ich trage die Schuld immer noch als eine schwere Last mit mir herum, eine ewige Schuld, die nicht vergeben werden kann.«
»Meinst du damit, dass sie nicht überlebt haben?«, fragt Karim leise.
Erin steht auf. Mit heftigen Bewegungen wischt sie die welken Blätter von ihrem Rock. Sie fängt an, hin und her zu tigern, mit großen Schritten von links nach rechts und wieder
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