Hexenheide
Stimme zittert. Er räuspert sich. »Erin, warum müssen wir hier im Dunkeln miteinander reden?« Er geht auf sie zu. »Du hättest ganz einfach irgendwo da drin auf mich zukommen können zwischen all den …« Er bleibt stehen. Warum dreht sie sich nicht zu ihm um? Was ist los? Ist irgendetwas passiert? Etwas mit Lenne? Karim spürt, wie ihm ein kalter Schauder über den Rücken läuft. War er zu spät? Hätte er Erin früher rufen müssen? Vielleicht ist sie böse oder enttäuscht? Oder vielleicht selbst bekümmert? Weil schon das Schlimmste passiert ist! Mit Lenne. Natürlich mit Lenne. Er hätte besser auf sie aufpassen müssen!
Langsam dreht sich die Frau vor den Sprossenwänden zu ihm um.
»Erin …«, fängt Karim entschuldigend an. Dann bleibt ihm die Stimme im Hals stecken. Mit großen Augen starrt er das Gesicht der Frau an, die vor ihm steht. Sein Blick bleibt an den blauen, sich kräuselnden Zeichen haften, die unter den roten Haaren hervortreten und sich über die Stirn bis dicht über die schmutzig grünen Augen kringeln. Das ist nicht Erin. Karim erstarrt. Er hört wieder Erins Stimme, wie sie ihn vor der Frau mit dem kahlen Kopf warnt, die allerdings in allen möglichen Verkleidungen auftreten kann: Wenn du gut hinsiehst, wirst du allerdings immer ihre Zeichen sehen. Von ihren Schläfen bis auf die Stirn.
Das ist Vita.
24
»Sie sind nicht Erin«, sagt Karim heiser.
Die Frau lacht, ein verächtliches Lachen, das ihre Mundwinkel runterzieht. Ihre Augen lachen nicht mit, sie starren ihm eiskalt ins Gesicht.
»Ich weiß genau, wer Sie sind!« Karim will ihr die Worte tapfer vor die Füße spucken, aber seine Stimme vollführt seltsame Sprünge. »Sie sind Vita.« Er hat den Namen kaum ausgesprochen, als die roten Locken, die den Kopf der Frau bedecken, tanzend und wirbelnd von ihr wegfliegen wie Hunderte von roten Schmetterlingen. Eine rote Wolke, ein Funkenregen, innerhalb weniger Sekunden ins Nichts verschwunden.
Karim starrt fasziniert auf den kahlen Kopf mit den zierlichen dunkelblauen sich kringelnden und kräuselnden Zeichen. Nach Lennes Beschreibung hatte Karim eine Hexe so hässlich wie die Nacht erwartet, doch seltsam genug ist die Frau, die nun vor ihm steht – ungeachtet ihres kahlen, blau tätowierten Kopfs –, auf eine beinahe außerirdische Art schön. Sie ist groß, viel größer als Erin, und ragt hoch über ihm auf.
»Was haben Sie mit Lenne gemacht?«, krächzt Karim.
Die Augenbrauen der Frau kriechen über ihre Stirn nach oben. Es bilden sich geschlängelte Falten in den blauen Zeichen.
»Wo ist sie?«, schreit Karim mit sich überschlagender Stimme, und er stampft mit dem Fuß auf. »Ich will, dass ihr Lenne in Ruhe lasst! Sie ist meine Freundin, und ich will sie zurück!«
»Ach, wie rührend«, sagt Vita herablassend. Ihre Stimme ist tief und rauchig.
»Ihr habt doch schon Rinnie … Rune, warum müsst ihr dann auch noch Lenne haben?« Karim hört in seinen Worten einen ungewollten Schluchzer, den er mit einem Husten zu überdecken versucht. Er hat keineswegs die Absicht, dieser Hexe etwas vorzujammern! Er schaut ihr direkt in die Augen, und es ist ein Gefühl, als könnte er in diesem Blick versinken. Es sind Augen wie nasskalte, mitleidlose Ozeane aus flüssigem Gift, in denen man ertrinkt, um nie mehr wieder nach oben zu kommen. »Wo ist sie?«, fragt Karim noch einmal, und er weiß nicht, ob er das laut gesagt hat oder nur in Gedanken.
»Erzähl du es mir«, erklingt die rauchige Stimme.
»Ich? Was soll ich …?« Karims Lippen bewegen sich, formen mühsam die Buchstaben zu Worten, als hätte er den Mund voller Kaugummi, das ihm das Sprechen unmöglich macht. »Was … was soll ich erzählen?«
Vita tritt einen Schritt vor und beugt sich über ihn. »Langsam habe ich genug von dir. Was glaubst du eigentlich, wer du bist, du kleines, mickriges Bürschchen, dass du uns so in die Quere kommst. Ich warne dich nur einmal. So weit gehe ich, doch dann will ich keinen Ärger mehr mit dir haben. Ich rate dir, den unsinnigen Kampf aufzugeben.«
»Ich bin kein mickriges … mickriges …« Karim ballt die Fäuste. »Und ich gebe auch nicht auf!«
»Ahahaha!« Ein hochmütiges Lachen kommt über Vitas Lippen. Sie blickt auf ihn herunter, als wäre er ein unscheinbares und allenfalls lästiges Insekt, das sie anödet. Dann schüttelt sie den Kopf und sagt mit einem bedauernden Blick: »Na gut, jetzt reicht es mir aber.« In ihren giftgrünen
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